"Medikamente machen alles nur noch schlimmer!"

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Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich hätte Medikamente in der Vergangenheit nicht verflucht, Nebenwirkungen davon gehabt oder sie einfach nur als Mist abgetan.

Fakt ist: Nicht jedes Medikament ist für jeden. Medikamente müssen nicht helfen.

Aber: Medikamente können eine gute Brücke schaffen, um fit genug für die Therapie zu sein, und irgendwann seine Probleme auch ohne Pillen im Griff zu haben.

Ich habe es im Kapitel über meine Geschichte schon angedeutet, dass ich teils sehr negative Erfahrungen mit Medikamenten hatte und mich die Liste an Nebenwirkungen abgeschreckt hat.

Ich bin rumgehetzt wie ein Tiger im Käfig, durch die Welt gewandelt wie ein Zombie, hatte starkes Untergewicht, bin ins Übergewicht gerutscht, hab mit Appetitlosigkeit gekämpft, hatte das Gefühl meine Haut würde mich erdrücken und bin komplett apathisch dagesessen. Das alles nur wegen Medikamenten, die mir überhaupt nicht gepasst haben und teils meine Zustände verschlimmert haben.

Heute bin ich gut eingestellt, habe eine Ärztin, die – wenn ich mal sage, dass etwas nicht passt – mit mir über mögliche Änderungen – wenn es nur die Anpassung der Dosis ist – spricht und habe das Gefühl, es hat mich die letzten Jahre weiter gebracht.

Das Problem ist, dass es bis dahin lange – und ich spreche in meinem Fall von fast 10 Jahren – dauern kann. Der Körper bleibt auch nicht immer gleich, man bekommt seine Probleme in den Griff und man hat Phasen im Leben, wo es schlechter wird, und dann beginnt manches von neuem.

Nebenwirkungen sind scheiße

Psychopharmaka sind nicht lustig. Man kommt sich zeitenweise vor wie ein Versuchskaninchen und auch wenn es auf die Psyche wirkt, machen es die Nebenwirkungen ab und an unerträglich. Ich kann die Teufelei gut nachvollziehen und der Griff zum Medikament sollte gut überlegt sein.

Viele Medikamente haben die ersten Wochen über keinerlei Wirkung. Dann kommen die Nebenwirkungen und nach mehreren Wochen kann man vielleicht ein Mal entscheiden, ob das Medikament hilft oder nicht. Man muss erst ein Mal unter dem Meer der Nebenwirkungen hindurch tauchen und dann hoffen, dass es auf der anderen Seite gut ist. Das frustriert. Aber Nebenwirkungen besagen wenigstens eines: Das Medikament macht irgendetwas mit deinem Körper.

Noch schlimmer als die Anfangsphase ist es jedoch, gewisse Medikamente einfach abzusetzen. Wenn man zB nach einem stationären Aufenthalt (dort geht man selten ohne Rezept für ein Präparat raus) einfach mit den Medikamenten aufhört. Die ersten paar Wochen, vielleicht auch die ersten ein bis zwei Monate, geht es einem gut. Man fühlt sich bestätigt, dass man das Zeug nicht braucht.

Und dann kommt der Einbruch.

Die meisten Medikamente arbeiten darüber, dass mit der Zeit ein Spiegel aufgebaut und dann gehalten wird. Das heißt es braucht eine Zeit bis "das System hochgefahren" ist und eine Zeit bis man wieder runter kommt. Die meisten Psychopharmaka sind kein Aspirin, dass man einfach einwirft und gut ist. Es gibt einige Medikamente, die akkut helfen können, zB im Falle einer Panikattacke oder die Nebenwirkungen von einem Entzug dämpfen, aber diese machen meist höchstgradig abhängig und sind nur für den Notfall gedacht.
Wer Langzeitwirkung will, muss meistens regelmäßig etwas nehmen. 

Wer Medikamente also absetzen will, sollte das langsam tun. Am besten in ärztlicher Betreuung.
Das bedeutet, über mehrere Wochen und Monate hinweg, die Dosis reduzieren, schauen was passiert, und anpassen. Mein schlimmster Fehler war immer, alles aprupt abzusetzen. Wer also selber etwas absetzen will, der entscheidet das am besten am Anfang einer Packung und nicht mit den letzten 2 Pillen. So hat man die Möglichkeit einzuteilen,  manche zu zerteilen und etwas langsamer herunterzufahren, wodurch ein Totalcrash ein wenig abgefangen wird – oder man sich früh genug Hilfe holen kann.

Leider haben viele Medikamente trotz positiver Auswirkung auch Nebenwirkungen, mit denen man schwer zurecht kommt. So fördern manche die Gewichtszunahme (auch wenn es oft nur Wassereinlagerungen sind) und das kann einem sehr zu schaffen machen, wenn man bereits mit Selbstwert kämpft. Genauso kann das Gegenteil der Fall sein. Ich habe über die Jahre hinweg Gewichtsveränderungen zwischen 48kg und mehr als 70kg gehabt, wobei mein Normalgewicht ca bei 55-56kg liegt. Untergewicht hat mich körperlich geschwächt und ich war so knochig, dass es nicht mehr schön war. Beim Übergewicht habe ich mich körperlich noch unwohler gefühlt als sowieso schon. Und dann gibt es noch andere schöne Effekte, die ich oben genannt habe und einen ganzen Regenbogen mehr.

Die eigene Entscheidung

Ich verstehe es komplett, warum viele Menschen vor Psychopillen zurückschrecken und manche diese möglichst schnell wieder loswerden wollen. Es ist jedermanns persönliche Entscheidung. Ich für meinen Teil bin mittlerweile pro Medikamente, aber wie gesagt, ich kenne auch die andere Seite der Medaille und es wäre falsch diese zu leugnen oder außer Acht zu lassen.

Ich will hier niemanden etwas einreden, aber meiner Meinung nach können Medikamente eine wichtige Stütze auf dem Weg zur Besserung sein. Ich nehme im Moment 3 verschiedene Präparate, die mir im Zusammenspiel sehr gut helfen. Eines habe ich sogar schon auf ein Viertel der ursprünglichen Dosis reduzieren können und weitere Herabsetzungen folgen hoffentlich.

Mir hilft es, jemand anderen vielleicht nicht. Das muss jeder für sich herausfinden. Ich werde in einem anderen Kapitel auch noch über meine Experimente mit Ernährung und Alternativtherapien berichten.

Eine Aussage, die mir sehr geholfen hat, Medikamente anzunehmen, war folgendes: Psychopharmaka sind nicht für immer gedacht. Sie sollen dich nur stabilisieren, damit du einigermaßen normal leben kannst und mittels Therapie deine Probleme in Angriff nehmen kannst. Wenn du lernst, damit umzugehen, werden die Medikamente überflüssig.

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