Von der Erziehung - Von Ottilie

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Dunst lag in der Luft. Der alte Fischer, der seine letzten Netze des Tages eingeholt hatte, lief durch die Straßen, schlenderte über die gepflasterten Wege. Viel schneller sollte man damals sein als man sie baute, die neuen Straßen aus quadratförmigen, silber-schimmernden Steinen, die einen viel besser, viel eleganter, an sein Ziel brachten. Heute sind Pflastersteine eher zu einem Symbol des Verfalls geworden - schließlich baut man Straßen aus Teer, glatte - reibungslose Wege bringen einen immer besser, immer weiter und immer schneller an sein Ziel. Effektivität steht im Schatten von Erfindungen, ganz gleich zu welchem Preis.

Der Fang des Fischers war gut, eine lohnenswerte Ausbeute, ein Ertrag, von dem er leben kann. Der Fischer ist angesehen, er versorgt das kleine Dorf, die Altstadt, sie alle begehren seine Ware. Er ist vor allem für die herausragende Qualität berühmt, die seine Fische, die Krabben, die Muscheln haben. Wer das Geld hat, der kauft bei ihm. Wer beim Fischer kauft, der ist erhaben, der weiß, was Luxus bedeutet. Der Fischer ist gut, der Fischer hat gute Ware und der Fischer führt ein gutes Leben. Er solle doch Bürgermeister werden, sagte man ihm einst, oder zumindest beratendes Mitglied der Stadtversammlung. Das alles lehnte der Fischer ab und man lobte ihn wieder: welch toller Mensch war er denn, dass er so bescheiden ist. Er war so gut situiert, ein Mensch mit Würde, mit Stolz, nicht „nur Fischer" sondern ein respektiertes Mitglied der Gesellschaft. Ein definitiver, wirklich-gut erzogener Mensch, ein gut erzogener Mann, ein gut erzogenes Kind.

Wie der alte Fischer so durch die Straßen läuft, an seiner Pfeife zieht und sich durch seinen weißen Bart streicht, da blickt er bei zwischen den hell-erleuchteten Laternen in die Fenster derjenigen Wohnungen, die um diese Uhrzeit ihr Licht noch in die Kälte tragen. In den alten Gemäuern aus der wilhelminischen Ära, in den Gebäuden aus festem Backstein und Strukturen, die vor der Zerstörung einerseits nicht zu bewahren sind und auf der anderen Seite ein unüberwindbares Hindernis darstellen. Einige leuchten sehr hell in dieser Zeit und der Fischer sieht sich fragend um, warum das wohl so ist. Einige Blätter fallen von den Bäumen und auf den Pflastersteinen spiegelt sich das Wasser vergangener Regenschauer.

Im Fenster erkennt er ein wohl-situiertes Ehepaar. Sie stehen im Raum: er trägt eine Fliege und eine Anzughose, eine Weste mit Hemd trägt er über seinem schwarzen Gürtel. Er raucht eine Zigarre, sein Schnurrbart huscht und zuckt wie seine Mimik, die er jemand anderem widmet. Seine Gattin hat sich in ein langes Kleid gehüllt, das in einer weiten vorm auf den Boden hernieder geht, sauber geputzt steht sie im Raum und bindet sich ihre Schürze ab. Beide blicken in diesem Moment auf ihr Mädchen, Ottilie, wie sie der Fischer kennengelernt hat. Sie maßregeln sie, kann der Alte vernehmen, das Zucken des Schnurrbartes und die wild-erhobenen Finger zeigen es ihm. Ottilie hat einen Fehler begangen. Ottilie ist fünfzehn Jahre alt.

Ottilie steht dort in ihrem weißen Kleid und sieht nach unten. Sie spielt mit ihren Fingern, mit ihrem Kleid, vielleicht mit ihrem Leben, wie sie da so vor sich hin murmelt. Vielleicht rechtfertigt sich Ottilie. Die Ottilie mit dem schönen braunen Haar, als Dutt gesteckt, mit dem schönen Kleid und der stattlichen Größe. Ottilie ist stark, vielleicht wird Ottilie alles verändern.

Ottilie lernte der Mann bereits sehr früh kennen, als sie noch sehr klein war und ihn auf seinem Schiff besucht hat. Ottilie war sehr höflich und freundlich zu ihm, etwas verspielt und ganz unbeschwert - sie nahm sich seinen Fang und spielte damit, manchmal gelangten sie wieder in die Freiheit und der Alte und die Junge lachten dann gemeinsam, ein ganz anständiges Mädchen, sagte er dann. Dabei erinnerte er sich an seine eigene Kindheit: welche Blödheiten hatte er veranstaltet, welche Dussligkeiten angestellt? Einmal zündelte er mit einem Feuer und hätte fast ein ganzes Haus niedergebrannt. Ein anderes Mal steckte er dem Herrn Lehrer Zündpulver in die Pfeife, ein anderes Mal ließ er das Federvieh der Nachbarin frei. Der Fischer war sicher nicht so artig gewesen, wie das Mädchen es war, der Fischer war vielleicht gar anders, ein „echter" Junge eben, mit den „echten" Strafen, die darauf folgten. Doch heute nennen sie ihn alle wohl erzogen, anständig, einen guten Mann.

Von der Erziehung - Von OttilieWhere stories live. Discover now