Kapitel 4 ~ Die Ankunft

179 27 4
                                    

Lurri wusste das sie träumte, als ein vorbeigehender Hund sie anherrschte, sie sollte nicht im Weg herumstehen.

Sie befand sich auf einem überfüllten Marktplatz, die Geräuschkulisse war atemberaubend. Farbenfroh schoben sich unzählige Menschen und Nymphen über den Platz. Lurri sah an sich herunter und betrachtete ein wunderschönes Kleid, das aus flüssigem Feuer zu bestehen schien.

„Lurri", flüsterte ein Mann neben ihr, wobei er das R ihres Namens ungewöhnlich lang rollte. Der Sylphe lief ein kalter Schauer über den Rücken. Sie drehte sich um und erblickte den Mann, von dem sie vor einigen Tagen schon geträumt hatte.

„Wer bist du?", fragte sie. Der Ungekannte lächelte kühl und seine blauen Augen glitzerten. Unvermittelt wurde Lurri angerempelt und fiel gegen den Mann. Im selben Augenblick zerplatze er wieder und hinterließ einen schmutzigen Regenbogen.


Müde schüttelte sich Lurri wie ein nasser Hund. Dieser grausige Tag war den Göttern sei Dank bald zu Ende. Schon morgens hatten sich die vielen kleinen Katastrophen angekündigt, als sie sich in letzter Sekunde zum Fenster hatte retten können. Tröstlich war gewesen, dass unten niemand gestanden hatte, den sie mit ihrem Erbrochenen hätte treffen können.

Das Pech war ihr daraufhin nicht mehr vom Leib gerückt. Beim Satteln des Pferdes war dieses ihr auf den Fuß getreten, Pinna war nicht aufgetaucht und mittags hatte sie ein Sommerregen überrascht.

Jetzt waren die weißen Mauern von Bella in Sicht und Lurri atmete auf. Bald würde sie in das warme Heim ihrer Großcousine treten und endlich in ein weiches Bett fallen lassen. Lurri war mulmig zumute und sie fragte sich, ob das bei ihrem ersten Besuch ebenfalls so gewesen war.

Sinas Mann Tullo war wie Lurri ein Luftnymph und Mitglied des Rates. Zusammen mit je einem Mitglied aus jeder Nymphenart und dem König von Mirus herrschten sie über Menschen und Nymphen.

In deinem Brief stand zumindest, dass er nett ist, rief sich Lurri ins Gedächtnis. Mittlerweile hatte sie die erste Ortschaft passiert, die sich an die Stadt schmiegten. Nicht alle konnten sich ein Haus hinter den Mauern leisten und so waren viele kleine Dörfer um die imposante Hauptstadt entstanden. Je näher man Bella kam, desto reicher wurden die Bewohner.

Vorsichtshalber ließ sie Pinna fliegen, als sie einige Zeit später an die Stadttore gelangte. Einer der Wachmänner musterte sie mit grimmigem Blick.

„Was führt Euch in die Stadt?", fragte er. Lurri schluckte trocken, während sie das Gildenamulett unter ihrem Hemd hervorzog.

„Ich bin Yano von den Luftnymphen aus Jukkar. Ich bin auf dem Weg zum Gildenhaus der Falkner."

Misstrauisch betrachtete der Wachmann das Amulett, ehe er nickte und den Befehl hab das Tor zu öffnen. Lurri dankte ihm und ritt hindurch. Sobald sich die Torflügel wieder geschlossen hatten, atmete sie erleichtert aus.

Lange hatte sie sich überlegt, welchen Namen sie sich geben sollte. Schließlich hatte sie sich zu dieser Notlüge durchgerungen. Schließlich konnten diese Männer nicht wissen, dass Yano in Wahrheit etwa einhundert Jahre alt war – anstatt vierundzwanzig.


„Vielen Dank mein Herr." Lurri stieg wieder in den Sattel und schlug die Richtung ein, in die der Diener gezeigt hatte. Nach einer halben Stunde vergeblicher Suche hatte Lurri aufgegeben und nach dem Weg zum Haus des Ratsmitglieds der Luftnymphen gefragt.

Wie ich das das letzte Mal gefunden habe, interessiert mich auch, grübelte sie und hielt am Himmel nach Pinna Ausschau. In regelmäßigen Abständen blitze ihr heller Körper vor dem dunklen Himmel auf.

Doch Lurris Aufmerksamkeit wurde bald von den matten Sandsteinmauern des Palastes abgelenkt. Die Straße der sie folge führte direkt auf das Heim des Herrschers zu. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages ließen die riesigen Steine regelrecht leuchten. Lurri war froh, dass sie auf einem Pferd saß. Wäre sie gelaufen, wäre sie sicher gestolpert und hingefallen, weil ihr Blick von dem Gebäude gefesselt wurde.

Gerade noch rechtzeitig bog sie in die Sackgasse ein, die der Diener beschrieben hatte. Sie war noch keine zwei Meter gekommen, da bebte die Erde unter ihr. Das Pferd wieherte und tänzelte nervös.

Energisch drang das Zetern einer Frau an Lurris Ohren. „Bei Terrais Rocksaum, ich bringe ihn um! Manchmal glaube ich, dieser Mann hat nichts als Luft in seinem Kopf."

Lurri schmunzelte, als sie vom Pferd stieg. Die Cousine ihrer Mutter hatte schon immer ein aufbrausendes Temperament besessen – ganz untypisch für Erdnymphen. Gemeinhin galten diese als ruhig und gelassen.

Nachdem Lurri geläutet hatte, kam ein Stallbursche angelaufen und nahm ihr die Zügel ihres Pferds ab. Keine Sekunde später öffnete sich die reich verzierte Tür und eine ältere Zofe blickte Lurri entgegen.

„Ihr wünscht?"

„Sagt bitte der Hausherrin, dass Yano aus Jukkar da ist."

Die Zofe nickte und öffnete Lurri die Tür.

Das letzte Mal, als Lurri ihre Verwandten in Bella besucht hatte, war sie noch ein Kleinkind gewesen. Darum war sie stolz auf sich, das ihr Mund nicht offen stand, als sie in den prachtvollen Empfangsraum geführt wurde.

Bei Aers Odem, das ist kein Raum – es ist ein Ballsaal, staunte Lurri und strich unauffällig ihr Hemd glatt.

Sie zuckte zusammen, als die Tür aufgestoßen wurde und eine Frau in wallendem Gewand eintrat.

„Hallo Gr-" Mitten im Schritt blieb sie abrupt stehen und kniff die hellgrünen Augen zusammen. „Du bist nicht mein Großvater."

Lurri lächelte und zog sich den Hut vom Kopf. Die vielen kleinen Zöpfchen regneten auf ihre Schultern nieder. „Hallo Sina."

Sina trat vor Lurri und gab ihr eine Ohrfeige. „Undankbares Balg! Wie konntest du nur einfach so verschwinden? Wir haben uns Sorgen gemacht. Ich habe mir schon überlegt, ob ich Neani einen Brief mit meinen Beileidsbekundungen schicke!" Nochmals schlug sie mit der flachen Hand auf Lurris Wange. Der Fußboden zitterte leicht.

Lurri nahm die Ohrfeigen gelassen hin. Anscheinend schien ihre Großcousine zu wissen, was in den letzten Monaten vor sich gegangen war. Schnell griff Lurri nach Sinas Hand, als diese sie abermals hob.

„Sina, hör auf damit. Lass mich erst erklären, ehe du mich bewusstlos schlägst."

Sina schnaubte undamenhaft, ließ die Hand jedoch sinken. „Dann erklär. Aber lass dir was Gutes einfallen."

Lurri - Die Nymphen von Mirus (2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt