1 | Eine überraschende Wendung

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Wenige Monate zuvor.

Kalter Schweiß rann Hermines Rücken hinunter, doch sie blieb nicht stehen. Ihre Beine brannten, ihre Lunge brannte, ihr Kopf pochte. Ihr ganzer Körper schrie danach, dass sie eine Pause einlegte. Sich nur ganz kurz an die Wand lehnte, die Augen schloss und neue Kraft schöpfte. Doch sie hatte keine Zeit zu verlieren. Sie musste Harry finden.

Sie hatte sich von Ron getrennt, um nach Harry zu suchen. Im ganzen Schloss tobte die Schlacht, überall waren Todesser und Ordensmitglieder in Duelle verwickelt. Sie selbst hatte sich von den Kämpfen entfernt, um in den oberen Etagen nach Harry zu suchen, doch ohne Erfolg. Es war sowieso viel wahrscheinlicher, dass er sich irgendwo auf den Ländereien aufhielt. Und so rannte sie die Gänge entlang und Treppen hinunter, um wieder zu Ron zu finden.

Sie war froh, dass keine Menschenseele sich hier oben aufhielt. Wenn sie ehrlich war, wusste sie nicht, ob sie gerade auch nur einen Fluch zaubern konnte. Sie war so erschöpft wie schon lange nicht mehr. Die vielen Wochen auf der Flucht steckten ihr in den Knochen, und sie war heute schon viel zu lange wach.

Mit schnellen Schritten hastete sie die lange Treppen zum zweiten Stock hinunter. Ausruhen konnte sie sich immer noch, wenn alles vorbei war. Jetzt zählte nur, Voldemort und seine Anhänger zu besiegen.

Sie trat ins Leere.

Bevor sie richtig realisieren konnte, was geschah, kippte sie haltlos vorne über. Verzweifelt versuchte sie, ihren Sturz mit den Händen abzufangen, doch auf der kalten Steintreppe gab es nichts, um sich festzuhalten. Hart schlug sie auf und überschlug sich von ihrem eigenen Schwung, bis sie die letzten Stufen hinuntergerollt war.

Ihr Zauberstab flog ihr aus der Hand, als sie mit dem Hinterkopf auf dem Boden aufschlug. Alle Luft wurde ihr aus den Lungen gepresst, so dass sie nicht einmal schreien konnte vor Schmerz. Für einen Moment lang sie auf dem Rücken, die Augen geschlossen, und kämpfte darum, einfach nur weiter zu atmen. Dann machte sich ein dumpfes Pochen in ihrem Knöchel bemerkbar und Hermine ging auf, dass sie in ihrer Eile umgeknickt sein musste.

Innerlich fluchend öffnete sie die Augen – und starrte direkt in das bleiche Gesicht von Draco Malfoy.

Jeder Muskel in ihrem Körper verhärtete sich. Malfoy stand vor ihr, seinen Zauberstab auf sie gerichtet. Sein Gesicht war unlesbar, eine Maske aus Eis. Hektisch suchte sie mit den Augen den Boden nach ihrem eigenen Stab ab. Er war nicht weit entfernt. Im Gegenteil, er lag direkt neben Malfoys Fuß.

Hermine versuchte, mit ihrer Hand danach zu greifen, doch er war schneller. Mit einer fließenden Bewegung war er einen Schritt zur Seite getreten und hielt ihren Stab nun unter seinem Fuß gefangen. Noch immer hatte er seinen Zauberstab auf sie gerichtet.

„Malfoy", fing Hermine langsam an, doch sofort brach sie wieder ab. Was gab es zu sagen? Er hatte Schuld an Dumbledores Tod. Auch, wenn er sie nicht verraten hatte, als sie in seinem Haus gefangen gehalten worden waren, seine übrigen Taten sprachen Bände.

Nervös leckte sie sich über die Lippen. Vielleicht, wenn sie schnell war, konnte sie sich zur Seite rollen und aufspringen, ehe er sie mit einem Fluch treffen konnte? Aber selbst wenn ihr das gelang, sie würde niemals vor ihm weglaufen können. Nicht mit einem verletzten Knöchel.

„Malfoy, bitte", versuchte sie es erneut. „Du musst nicht ... niemand würde wissen ..."

„Niemand würde wissen, dass ich dich umgebracht habe?"

Die eisige Kälte in seiner Stimme ließ Hermine zusammenzucken. Sie konnte nicht glauben, dass ein Mitschüler, ein Junge in ihrem Alter, über ihr stand und bereit war, sie zu töten. Sie konnte das einfach nicht glauben.

„Wenn du mich laufen lässt", setzte sie flehend an, „das würde niemand wissen. Keiner ist hier. Bitte. Malfoy ... ich weiß, dass du mich hasst. Und Harry und Ron. Aber ... willst du wirklich zum Mörder werden?"

Ein hässliches Grinsen verzerrte sein Gesicht: „In euren Augen bin ich doch schon längst ein Mörder."

Eindrücklich schüttelte Hermine den Kopf: „Nein! Nein, das bist du nicht! Wir wissen alle, dass Snape und nicht du den Todesfluch gesprochen hat!"

Schwer atmend starrte sie zu ihm hoch. Sie war sich nur zu deutlich bewusst, dass sie vor Malfoy auf dem Boden lag, ohne ihren Stab, erschöpft und verletzt. Was auch immer seine Intentionen waren, sie würde ihn nicht aufhalten können. Sie spürte, wie Todesangst an ihrem Bewusstsein nagte, doch sie zwang sich, dem nicht nachzugeben. Sie hatte sich schon aus anderen Situationen rausreden können. Sie würde nicht aufgeben.

Blinzelnd bemerkte sie, dass Malfoy den Gang auf und ab schaute. Vergewisserte er sich, ob wirklich niemand da war? Wollte er sie ohne Zeugen töten?

Plötzlich ging er neben ihr in die Hocke, den Stab noch in der Hand, aber nicht mehr auf sie gerichtet. Die eiskalte Maske in seinem Gesicht war erschöpfter Resignation gewichen.

Vorsichtig richtete Hermine sich auf. Draco hatte sich zwischen ihr und ihrem Stab positioniert, so dass sie noch immer nicht außer Gefahr war, doch er schien nicht mehr so feindselig wie noch eine Sekunde zuvor.

„Kannst du dich selbst heilen?"

Die Worte kamen so leise, dass Hermine sie beinahe nicht gehört hätte. Für einen Moment starrte sie den blonden Jungen vor ihr sprachlos an, dann nickte sie rasch.

Noch ehe sie mehr sagen konnte, hatte Malfoy sich wieder aufgerichtet. Er trat betont einen Schritt zur Seite, so dass sie endlich nach ihrem Zauberstab greifen konnte. Fragend blickte sie zu ihm hoch, doch seine Miene hatte sich schon wieder verschlossen. Sie verstand nicht, was in ihm vorging, doch sie spürte, dass er ihr keinen Schaden zufügen wollte.

„Ich werde mich jetzt umdrehen und langsam den Gang entlang weggehen."

Er betonte jedes Wort und schaute ihr eindringlich in die Augen, nachdem er den Satz beendet hatte. Dann, wieder ohne ihre Reaktion abzuwarten, tat er, was er angekündigt hatte: Er drehte sich um, den Zauberstab noch immer bereit in einer Hand, und ging. Er ging einfach weg, mit dem Rücken zu ihr. Und schaute nicht zurück.

Hermines Blick fiel auf ihren eigenen Stab, den sie endlich wieder in der Hand hielt. Es wäre vermutlich klüger, ihn auszuschalten. Immerhin stand er trotz allem auf der Seite der Todesser.

Doch sie tat es nicht.



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