Kurzgeschichten

An meinen Freund

Weißt du noch damals, als wir Kinder waren: wir wollten unbedingt später zusammen Polizisten werden. Mein Vater hatte uns einen Film gezeigt und danach sind wir den ganzen Tag im Garten herumgelaufen, und haben so getan, als würden wir Verbrecher schnappen. Diesen Tag werde ich nie vergessen. Damals haben wir uns geschworen, dass wir für immer Freunde sein werden.

In der fünften Klasse dann musstest du umziehen. Ich weiß noch, wie ich mich bei euch im Kofferraum versteckt habe, damit ich mitkommen konnte. Wie deine Mutter mich mitten auf der Autobahn bemerkt hat, und wir dann fast den ganzen Tag an der Raststätte auf meine Eltern gewartet haben, damit sie mich abholen. Uns war so langweilig, dass wir den Besitzer solange genervt haben, bis er uns rausgeworfen hat. Wir fanden das total lustig, aber unsere Eltern weniger.

Ich glaube, ich war 15, als ich mich in das erste Mädchen verknallt habe. Ich hatte viel zu viel Angst sie anzusprechen, deswegen hast du es einfach für mich gemacht. Ich habe dich dafür gehasst, aber es war eine der besten Entscheidungen, die du jemals getroffen hast. Später bin ich sogar mit ihr auf den Abschlussball gegangen.

Du warst auch da, als sie irgendwann Schluss gemacht hat. Egal wie traurig oder abweisend ich war, du warst da. Um mich abzulenken hast du mich zu meinem ersten Clubbesuch mitgenommen. Die ganze Nacht haben wir gefeiert und getanzt, bis ich dann irgendwann draußen im Gebüsch stand und gekotzt habe. Die beste Nacht meines Lebens!

Als wir dann endlich mit der Schule fertig waren, wollten wir uns unseren Kindheitstraum erfüllen und haben uns an der Polizeiakademie beworben. Du hattest so große Angst vor der Prüfung, dass du nicht hingehen wolltest. Ich musste dich mit Gewalt in den Prüfungsraum drängen. Dabei hast du mir die Nase blutig geschlagen. Es tut heute noch weh, wenn ich daran denke. Am Ende waren deine Sorgen allerdings völlig umsonst, weil du die beste Prüfung von allen hattest.

Während der Ausbildung sind wir jede Woche zusammen trainieren gegangen. Etwas anstrengenderes habe ich noch nie erlebt. Schon da konnte ich mir ein Leben ohne meinen besten Freund nicht mehr vorstellen.

Eines Abends haben wir aus Spaß gewettet, wer als erstes heiratet. Der Verlierer müsste den Ententanz auf der Hochzeit des Gewinners tanzen. Natürlich habe ich gewonnen. Eine bessere Hochzeit hätte ich mir nicht vorstellen können.

Als wir dann endlich auf Streifendienst fahren durften, waren wir so Stolz, dass wir unsere Uniformen gar nicht mehr ausziehen wollten; wie kleine Kinder ihre Kostüme.

Du warst jeden Tag in meinem Leben und ich in deinem. Du bist sogar der Patenonkel meines Sohnes. Ich bin der Patenonkel deiner Tochter. Jeden Tag gingen wir zusammen auf Streife, haben Einsätze überstanden und unser Leben gefeiert. Du warst bei jedem wichtigen Moment meines Lebens dabei. Und genau diese Momente laufen innerhalb von Sekunden vor meinem inneren Auge ab. Die Sekunden, in denen du zu Boden fällst. Die Sekunden, in denen ich den Schuss höre und nicht realisiere, was passiert, die längsten und wichtigsten Sekunden meines Lebens.

Ohne zu zögern drücke ich ab und treffe. Direkt ins Herz, doch es ist zu spät. Du bist tot. Für immer aus meinem Leben verschwunden. Diese eine Sekunde. Nie wieder werde ich einen Moment mit dir teilen. Nie wieder werden wir abends im Garten sitzen, ein Bier in der Hand, und einfach nur reden. Nie wirst du deine Tochter aufwachsen sehen, ihre Zöpfe flechten, ihren ersten Freund einschüchtern oder sie stolz zu ihrem Abschlussball fahren. Nie wirst du alt werden, mit deiner Frau auf der Terrasse sitzen und deinen Enkeln beim Spielen zusehen. Nie werden wir die Bar haben, die wir uns immer erträumt hatten, wenn wir mal in Rente gehen. Wir wollten sie Molli's nennen, nach dem ersten Mädchen, in das wir beide verliebt waren. Deine Frau. Nie wieder wirst du Leben. Das alles verpasst du, weil ein Mensch beschlossen hat, dein Leben zu beenden. Weil er das Schicksal in seine Hand genommen hat und beschlossen hat, dass du sterben musst. Weil ein Mann Gott gespielt hat!

Aber ich werde nicht aufgeben. Für dich. Ich werde dein Andenken in Ehren halten. Ich werde für deine Familie sorgen. Dich niemals vergessen. Und irgendwann, wenn ich in Rente gehe, werde ich unsere Bar aufmachen. Über dem Tresen wird immer ein Bild von dir hängen, so dass dich niemand vergessen wird. Und wenn ich dann mein Leben gelebt habe, wenn ich all das hatte, was du niemals haben wirst, dann komme ich zu dir. Dann werden wir uns wiedersehen. Wir werden irgendwo auf Wolken sitzen und ich werde dir erzählen, was du alles verpasst hast. Jede kleinste Kleinigkeit. Wie deine Tochter die beste ihres Jahrgangs war, wie sie dieses wunderschöne, grüne Kleid anhatte, auf ihrem Abschlussball und alle Jungs gar nicht mehr aufhören konnten sie anzustarren. Wie mein Sohn und deine Tochter geheiratet haben und ihren kleinen Sohn nach dir benannt haben. Und wie unsere Bar gelaufen ist, wie sie zur beliebtesten Polizistenbar der ganzen Stadt geworden ist.

Dass alles werde ich dir erzählen, wenn wir uns wiedersehen. Mein Freund...