Zeit

7 0 0
                                    

Es war schon so lange her, seitdem ich ihn das letzte Mal traf. Seitdem ich ihn das letzte Mal berührte. Seitdem ich das letzte Mal mit ihm sprach. Seitdem ich das letzte Mal seinen Geruch wahrnahm. Seitdem ich ihn das letzte Mal sah.

Er sieht immer noch mindestens genauso gut aus wie damals. Wenn nicht sogar besser. Ich hatte mir nicht einmal in meinen wildesten Träumen vorstellen können, dass das überhaupt möglich war. Dass er noch attraktiver, noch heißer aussehen konnte. Ich frage mich immer noch, ob er sich seines Charmes mittlerweile bewusst ist. Oder seiner Wirkung auf all die restlichen Anwesenden hier im Raum.

Wie lange ist es schon her? Fünf Jahre? Oder doch eher sechs? Ich weiß es nicht. Aber so genau kann ich es ja auch gar nicht wissen. Immerhin brachen wir den Kontakt nicht von einem auf den anderen Tag ab. Wir sprachen immer weniger miteinander. Er erkundigte sich noch einige Male nach mir. Ob auch alles in Ordnung sei. Aber ich gab ihm - so dumm wie ich damals eben war - nur die kürzesten Antworten auf seine Fragen. Oder antwortete erst nach Stunden. Ich wollte mich doch nur selbst beschützen. Ich liebte ihn. Er mich aber nicht. Das wusste ich. Er musste mich auch nicht lieben, nur weil ich es tat. Es ist nicht seine Schuld. Aber es brach mir trotzdem das Herz. Denn - wie gesagt - ich liebte ihn. Und nach ihm hatte ich keine andere Person mehr geliebt als ihn.

Da steht er nun. Erblickt hat er mich bisher noch nicht. Ob das gut oder schlecht ist, kann ich nicht sagen. Ich bin gespalten. Ich stehe zwischen »Versteck dich, so schnell du nur kannst« und »lauf auf ihn zu und rede mit ihm«. Was soll ich denn jetzt bloß tun? Wie wär's mit »Tu einfach so, als hättest du ihn nicht gesehen, dann musst du ihn nicht ansprechen und auch nicht vor ihm weglaufen«? Das stimmt.

Aber ich will doch mit ihm reden. Ich möchte wissen, wie seine letzten fünf Jahre so liefen. Ob er immer noch mit dem Mädchen zusammen ist, weswegen ich mich nicht mehr traute, ihn anzuschreiben. Vielleicht sind sie mittlerweile schon verlobt.

Ich blicke nun auf meinen Plastikbecher herab. Gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit. Definitiv kein Wasser - nur um Missverständnisse an dieser Stelle zu vermeiden.

Vielleicht sind sie mittlerweile schon verheiratet.

Ob er mich wohl zu seiner Hochzeit einladen würde? Nein, ich glaube nicht. Wie gesagt, wir hatten keinen Kontakt mehr zueinander. Wieso sollte er mich dann einladen? Nur weil ich ihm vor knapp sechs Jahren alles erzählte. Er die einzige Person war, bei der ich so sein konnte, wie ich sein wollte, ohne dass er das überhaupt wusste. Weil er alles für mich war.

Ich frage mich heute immer noch, was ich damals eigentlich für ihn war. Eine Freundin, ja ich weiß. Aber hatte er auch immer das Gefühl gehabt, dass er sich mir anvertrauen konnte? Dass er mit mir über Gott und die Welt reden konnte, ohne sich für seine Meinungen oder Ansichten zu schämen. War ich auch nur ansatzweise besonders für ihn gewesen? War ich eine Person für ihn, bei der er so sein konnte, wie er sein wollte, ohne sich in irgendeiner Weise verurteilt zu fühlen?

Ich hoffe, er fühlte sich damals zumindest ansatzweise so. Denn verurteilt hatte ich ihn wirklich für nichts. Wie konnte ich auch? Er ist perfekt in jeglicher Art und Weise. Er gibt auf sein Äußeres acht, taucht immer ordentlich gekleidet bei Treffen oder Veranstaltungen auf. Er ist höflich zu jedem, ohne in irgendeiner Weise voreingenommen zu sein. Selbst wenn er jemanden nicht leiden kann, versucht er sich zusammenzureißen; das ansonsten daraus resultierende Drama wäre immerhin unnötig. Er hat seine eigene Meinung zu den unterschiedlichsten Themen, respektiert aber auch die Meinung anderer. Er gibt auf seine Mitmenschen Acht. Ihm fällt es sofort auf, wenn jemand in seiner Gegenwart friert, es einem nicht sonderlich gut geht oder vielleicht sogar gerade Ärger im Anmarsch ist und warnt einen. Er unterstützt die Personen, die ihm wichtig sind, bei dem was ihnen wichtig ist; ob es nun darum geht, ein Mädchen für seinen Kollegen zu klären, Freunden Mut zuzusprechen oder bei einem Theaterstück aufzutauchen. Er ist schlau, gibt sich Mühe Dinge zu erschließen, die er noch nicht versteht. Und ganz nebenbei bemerkt besitzt er ein Herz aus purem Gold.

Ich blicke hoch und traf auf Grün. Wie ich dieses Grün vermisst hatte. Ich sah es schon so lange nicht mehr. Fünf Jahre lang. Es strahlt noch genauso hell wie damals. Ich kann jetzt nicht wegschauen. Sonst sehe ich es wahrscheinlich nie wieder. Aber ich kann jetzt doch auch nicht einfach hier rumstehen und ihn anglotzen. Oder vielleicht doch? Also ich habe nichts dagegen.

Oh Gott, reiß dich doch jetzt endlich mal zusammen und geh zu ihm rüber! Mehr als dir erneut einen Korb geben, kann er doch sowieso nicht tun. Und an diesen Schmerz hast du dich ja mittlerweile schon gewöhnt.

Also setze ich meine Füße in Bewegung. In seine Richtung. Und er tut genau dasselbe. Geht auf mich zu. Das passiert gerade wirklich.

Mein Herz schlägt wie verrückt. Mir wird schwindelig - das liegt bestimmt am Alkohol. Oh, und mein Magen zieht sich zusammen. Mein Kopf brummt, aber ich denke eigentlich an nichts. Außer an ihn. Sein Name wiederholt sich in einer Endlosschleife in meinem Gehirn. Ich weiß noch nicht einmal, was ich gleich sagen soll. Wie ich ihn begrüßen soll. Wäre eine Umarmung nach all der Zeit noch angemessen?

Was denkt er wohl gerade? Ob er wohl glücklich ist mich zu sehen? Möchte er mit mir überhaupt über die vergangenen Jahre reden. Also ich kann es innerlich gar nicht erwarten, ihm von jeder Kleinigkeit aus den letzten Jahren zu erzählen. Wie mein Jahr im Ausland lief, denn danach hab ich ihn schon nicht mehr gesehen. Wie es war, mit meinem Studium zu beginnen und es dann nach drei Semestern abzubrechen. Meinen allerersten Freund zu haben, der sich als allergrößte Flachpfeife entpuppte, und seitdem nie wieder eine richtige Beziehung eingegangen zu sein. Von meinen neuen Freunden zu erzählen, von denen mich der Großteil nicht einmal richtig verstand. Von meinem Job zu berichten und der dämlichen Chefin, die mich wie einen nutzlosen Sack herumschubste. Von meinen Geschwistern, die die letzten Jahre über nur das taten, worauf sie Bock hatten. Von meinen Eltern, die nicht damit aufhören konnten die letzten fünf Jahre immer mal wieder nach ihm zu fragen. Von meiner eigenen kleinen Ein-Zimmer-Wohnung (wenn man das überhaupt »Wohnung« nennen konnte), die ich mir dann auch endlich mal leisten konnte.

Und während ich so über all diese Dinge nachdenke, verlangsamen sich meine Schritte und mich verlässt der Mut. Ja, ich möchte ihm alles erzählen. Aber will er das alles denn überhaupt hören? Will er überhaupt mit mir sprechen? Mir von seinen letzten Jahren erzählen? Mir davon berichten, wie sein Leben so verlaufen ist? Oder möchte er einfach nur hallo sagen? Natürlich. Er möchte nur einmal hallo sagen. Aus Höflichkeit. Wieso mache ich mir schon wieder so viele Hoffnungen.

Wir bleiben stehen.

»Hey.«

»Hey.«

»Lange nicht mehr gesehen.«

»Stimmt. Fünf Jahre. Gibt's was neues?«

Gelächter.

»Aber natürlich. So einiges.«

»Dann hau mal raus.«

Wir beide grinsen uns nur an wie zwei Vollidioten. Gott, wie ich das vermisse. Wie ich ihn vermisse.

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 02, 2021 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

ThoughtsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt