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In der Nacht schneite es. Auf dem Weg zur Arbeit kriecht der eisige Wind unter meinen grauen Wintermantel. Den Blick gesenkt und mein Gesicht in dem hellen Wollschal versteckt, um der Kälte zu entkommen, gehe ich zügig die Straße entlang. Der Schnee, der unter meinen braunen Lederstiefeln knirscht, weckt in mir nur geringfügig Begeisterung. Als Kind konnte ich kaum erwarten, dass es schneit, aber nun wünschte ich der Schnee würde sich wieder dahin verziehen, wo er herkam. Die Hände tief in den Manteltaschen vergraben und den Blick gesenkt eile ich durch die dunkle Stadt. In ein paar Wochen ist Weihnachten, die Stadt wird, trotz des schwarzen Nachthimmels durch Lichterketten an Straßenlaternen und in Schaufenstern erleuchtet. In einer Bäckerei herrscht schon reges Treiben, die Luft wird vom Duft der frischen Brötchen erfüllt, bis wieder ein kalter Wind aufkommt und meine Haare durch die Luft wirbelt. Ein Schauer überkommt mich. Ich wünsche mich wieder in mein warmes Bett, das sich leider sehr weit weg befindet. Ein Blick auf die Uhr. 06:23 Uhr. Ich muss mich beeilen. Ich beschleunige mein Tempo, den Blick nur ab und zu gehoben um nicht gegen irgendeine Laterne zu laufen. Wieder versinke ich in meinen Gedanken. Auf einmal merke ich nur noch wie ich gegen etwas laufe und rückwärts in den Schnee falle. Die Kälte kriecht über meinen Nacken an meinem Rücken herunter und lässt mich schaudern. Ich brauche einen Moment um zu begreifen was passierte. Als ich hochschaue, sehe ich eine Hand, die mir entgegengestreckt wird. "Es tut mir leid, ich hoffe Sie haben sich nicht weh getan." Die Hand gehört zu einem männlichen Körper, dessen Gesicht mich bedauernd anschaut. Ohne seine Hand zu ergreifen stehe ich auf und klopfe meinen Mantel ab. "Schon okay," murmle ich. Er zieht die Hand zurück und hebt die Bücher, die er trug auf. 06:28 Uhr. Mist. Ich eile an ihm vorbei, ohne ihm noch einen weiteren Blick zu schenken. Ein paar Minuten später betrete ich das Café in dem ich als Kellnerin arbeite. Mein Chef erwartet mich. Ich eile durch den Raum, an der Theke vorbei in den hinteren Raum, der nur den Mitarbeitern zugesagt ist. Mit ein paar Handgriffen ziehe ich meinen Mantel und Schal aus und binde mir die weiße Schürze mit der blauen Aufschrift "Jary's" um. Währenddessen begebe ich mich wieder in den Vorderraum um die Stühle von den Tischen wieder auf den Boden zu stellen und die runden Holztische zu dekorieren. Eine kleines Teelicht, ein paar glitzernde Sterne und hier und da ein kleiner Tannenbaum aus Holz um die weihnachtliche Atmosphäre zu waren. Dann noch die Lichterketten entlang der Fenster und über der Bar einstecken und die ersten Kunden dürfen kommen. Viele kommen schon um 07:00 Uhr und holen sich einen Kaffee bevor sie zu ihrer Arbeit im Büro hetzen um sich den ganzen Tag von Kollegen und Chef anmaulen zu lassen. Irgendeine langweilige Arbeit, bei der sie sich lediglich auf Feierabend und Wochenende freuen, aber Tag für Tag weiter arbeiten, damit sie sich ein Leben leisten können, von dem sie nichts haben,  weil sie sich den ganzen Tag nur in einem Büro voll mit Arbeit, die ihnen keinerlei Freude bereitet, befinden. Ich verdiene nicht viel, das ist wahr, aber es reicht um meine Wohnung zu bezahlen und hin und wieder mal ein schickes Oberteil kaufen zu können. Ich bin dankbar für diese Arbeit, die mir den Kontakt mit Menschen ermöglicht und bei der ich ein paar Stunden komplett abgelenkt bin, von all den Gedanken, die mich abends überkommen, sobald ich in meine einsame Wohnung zurückkehre. Ich bin glücklich, mein Chef schätzt meine Arbeit und mit den Kolleginnen komme ich klar. Es werden keine tiefen Freundschaften entstehen, aber wir respektieren einander und auch die Freiheit die der andere braucht. Noch einmal gleitet mein Blick über die Tische und ich überlege, ob ich alles vorbereitet habe. Seit drei Jahren arbeite ich hier, ich möchte gar nicht woanders hin. Nachdem ich endlich mit 20 Jahren aus meiner Heimatstadt herausgekommen bin, habe ich hier angefangen und bin seither nicht mehr weggekommen. Aber das ist in Ordnung. Ich lebe in der Überzeugung mehr Geld wird mich nicht glücklicher machen und wie ich bereits erwähnte reicht mein Gehalt um davon leben zu können. Meine Wohnung liegt etwa zehn Minuten Fußweg von hier entfernt im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses. Es ist ein ruhiges Gebiet, niemand drängt sich dem anderen auf, keiner erzwingt Freundschaften oder Gespräche mit den jeweiligen Nachbarn. Ich kann einfach vor mich hinleben. Genauso habe ich es mir lange gewünscht. Mein Chef ist ein angenehmer Mensch mit dem es sich gut arbeiten lässt. Er achtet sehr auf Höflichkeit und ist kein Freund von Unpünktlichkeit. Viele Mitarbeiter habe ich kommen und gehen sehen, da sie nicht mit seinen "strengen" Regeln klargekommen sind. Ich sehe darin allerdings nichts, dass nicht angebracht wäre. Seine Struktur gibt mir klare Anweisungen und irgendwo Halt. Die Konsequenzen legte er mir von Anfang an offen hin und wies mich an seine Regeln zu befolgen oder den Arbeitsplatz zu wechseln. Seitdem bin ich immer sehr gut mit ihm klargekommen. Er respektiert meine Arbeitsweise, ich respektiere seine Position. Auch die Kunden scheinen angetan von der friedlichen Atmosphäre in seinem Café. Es gibt Zeiten, da sind wir komplett voll, es gibt viel zu tun, aber selten Beschwerden 'es gehe zu langsam' oder 'man werde nicht bedient'. Man muss dazu sagen ich habe allzeit einen guten Überblick und behandle jeden Kunden gleich. Ich bin mir auch der strengen Beobachtung meines Chefs bewusst, jedoch denke ich, dass ich nichts zu befürchten habe. Er vertraut mir und ist zufrieden mit meiner Arbeit, soweit ich das aus seinem Handeln und seiner Bewertung lesen kann. Einmal in der Woche haben wir Teamsitzung. Dort wird ganz ehrlich besprochen, wie die Woche gelaufen ist und auch wie sich die Arbeit der einzelnen Mitarbeiter auszahlt oder den Betrieb aufhält. Die letzte Gruppe wird dann zu einem Einzelgespräch eingeladen, bei dem sie noch einmal die Chance bekommen Arbeitswillen zu zeigen, oder sich selbst dafür zu entscheiden das Café zu verlassen. Viele habe ich danach nie wieder gesehen.

Ein Engel für RoseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt