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Am nächsten Morgen wache ich auf und begebe mich wie gewohnt auf den Weg zur Arbeit. Der Schnee liegt immer noch und scheint nicht die Absicht zu haben wieder zu gehen. Im Gegenteil, der leichte Schneefall lässt vermuten, dass noch mehr dazu kommt. Inzwischen liegen bestimmt 15 Zentimeter Schnee. Vor dem Café macht Jack sich an den Schneemassen zu schaffen, die den Eingang versperren. Ich begrüße ihn, er nickt mir zu und ich beginne meine Morgenroutine. Schürze umbinden, Tische stellen, dekorieren. Ich bin gerade fertig geworden, da verrät die Glocke mir den ersten Kunden. Aus dem hinteren Eck eile ich nach vorne an die Theke um einen jungen Mann zu begrüßen. "Was darf es sein?" Ich lächle ihn an, er sieht mir in die Augen, lächelt und bestellt einen Kaffee. Dann setzt er sich an einen der Tische direkt am Fenster und wartet. Ein paar Minuten später betritt mein Chef das Café und schüttelt sich. "Was für eine eisige Kälte", murmelt er vor sich hin. Nach dem ersten Ansturm mache ich wieder eine Pause und bemerke, dass unser Gast immer noch am Tisch am Fenster sitzt und mich freundlich anlächelt. Ich stelle mich ein paar Meter entfernt von ihm an die Glasscheibe und blicke nach draußen. Gegen Mittag sind wieder mehr Menschen auf der Straße. Wenige finden den Weg in "Jary's". Ich hänge meinen Gedanken nach bis der Mann sich zu Wort meldet. "So viele Menschen laufen ihren eigenen Sorgen und Problemen hinterher, sodass sie nicht erkennen, welche Chance sich ihnen bietet." Er sieht aus dem Fenster, scheint selbst in Gedanken versunken zu sein und da ich ihn nicht stören will, drehe ich mich um und will wieder zur Theke laufen. "Meinen Sie nicht auch?" Ich bleibe stehen, schaue über die Schulter zurück und sehe wie er mich intensiv aber freundlich anschaut. Ich kann nichts antworten und setze stirnrunzelnd meinen Weg fort. Gegen nachmittag verlässt er das Café und ich atme erleichtert auf. Ich weiß nicht was es ist, aber etwas an seinem Wesen beunruhigt mich. Er sah mich an als würde er mich kennen. Das kann nicht sein. Ich sollte diesen Vorfall möglichst schnell vergessen. Ich darf nicht zulassen, dass mich meine Vergangenheit wieder einholt. Das darf einfach nicht sein. Ich habe diesen Mann hier noch nie gesehen. Dabei ist diese Stadt gar nicht so groß und "Jary's" ziemlich beliebt. Gedankenverloren wische ich die restlichen Tische ab und begebe mich auf die Suche nach Jack um mich von ihm zu verabschieden. Ich will nur wissen, dass er okay ist. Kurz reden wir über die Einnahmen dieses Tages, bis ich ihm noch einen schönen Abend wünsche und mich auf den Weg nach Hause mache. Die Hände in den Taschen vergraben, das Gesicht hinter dem dicken Schal versteckt, laufe ich durch den Schnee, der unter meinen braunen Lederstiefeln knirscht. In meinem Kopf lasse ich den heutigen Tag noch einmal Revue passieren. Doch dann hab ich nur noch das lächelnde Gesicht dieses fremden Mannes im Kopf. War er vielleicht einfach nur freundlich? Vielleicht bin ich zu paranoid. Ich lebe seit Jahren hier in Frieden, warum sollte sich das jetzt ändern? Wahrscheinlich sehe ich ihn sowieso nie wieder. Kurz bevor ich meine Wohnung erreiche, sehe ich aus einiger Entfernung eine dunkle Gestalt, die vor dem Haus steht und zu warten scheint. Ohne mir Gedanken darüber zu machen laufe ich einfach weiter in den nächsten Laden, in der Hoffnung, dass diese Gestalt nach ein paar Minuten wieder verschwunden ist. Ich finde mich in einem relativ großen Bücherladen wieder, dessen Holzdielen knarzen und dessen zweiter Stock von mächtigen Säulen gehalten wird. Die Wände sind voller Bücher, welche diesen schönen Geruch von altem Papier und Geschichte verbreiten. Mit meinen Fingern streiche ich über die Buchrücken, während ich fasziniert an dem ersten Regal vorbei schleiche. Am Ende dieses Regales bemerke ich, dass der Laden größer ist, als er von außen scheint. Rechts befindet sich eine helle Holztheke, die beladen mit Büchern ist, doch der Besitzer dieses Schmuckstücks ist weit und breit nicht zu sehen. Nach links geht es noch viel tiefer in den Laden hinein, der am Ende des Flures nur noch mit elektrischen Fackeln beleuchtet wird. Jeder Zentimeter der Wände sind mit Büchern ausgefüllt, umso tiefer man geht, umso mehr hat man das Gefühl man steigt direkt in eine Geschichte ein. Inzwischen bin ich so weit abgebogen, dass ich gar nicht mehr weiß, wie ich hierher gekommen bin. Kann es wirklich sein, dass ich mich noch in demselben Laden befinde, in den ich reingegangen bin um zu warten? Wie kann es sein, dass mir dieses Bücherparadies noch nie aufgefallen ist, wo ich doch gleich gegenüber wohne?
Es ist als wäre ich in eine neue Welt eingetaucht. Die Bücher scheinen Einfluss auf mich zu nehmen, ohne dass ich sie lese. Ich erinnere mich an früher..

"Rose, komm endlich! Kannst du dich nicht endlich für ein Buch entscheiden? Wir haben nicht ewig Zeit!" Die genervte Stimme meiner Mutter hallt durch den Laden. Ich renne von einem Regal zum anderen, schaue hier ein Buch an und nehme dort eins aus dem Regal. "Mama, nur noch einen Augenblick!" In meinen Gedanken stelle ich mir vor, wie dieser Augenblick noch Wochen dauert. Ich sauge jedes Wort auf, dass ich lese, diesen Geruch der Bücher und den Staub, der sich langsam auf sie legt. Doch alles scheint durcheinander zu wirbeln, sobald ich vorbei renne. Mit fünf Büchern auf dem Arm komme ich bei meiner Mutter an der Verkaufstheke an. "Können wir nicht alle kaufen?" Mit großen Augen blicke ich zu meiner Mutter auf. Sie schmunzelt, doch antwortet mit strenger Stimme: "Ich sagte doch EIN Buch, jetzt hast du fünf hier." Sie legt ihre Hand betonend auf den Bücherstapel. Mit feuchten Augen sehe ich von den Büchern zu meiner Mutter. "Aber ich kann mich nicht entscheiden, ich will die alle haben!" Seufzend kramt sie in ihrer Handtasche nach ihrem Geldbeutel und bezahlt die Bücher. "Also gut Rose, aber das ist das letzte Mal, dass ich dir das durchgehen lasse!"

Ich muss schmunzeln. Bücher habe ich schon immer geliebt. Am Liebsten hätte ich alle Bücher der Welt gelesen. Auf einmal höre ich ein Geräusch aus dem Dunkel zwischen den Regalen. Ich zucke zusammen, doch kann mich nicht bewegen.

Ein Engel für RoseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt