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"Ich hab verschlafen. Tut mir leid, Jack. Was ist denn jetzt mit dem Café?" Kritisch sieht er mich an. "Mach dir keine Sorgen, die Leute werden auch ohne ihren Kaffee überleben. Ich weiß, dass etwas nicht stimmt. Ich bin vielleicht alt, aber nicht blöd." Sanft nimmt er meine Hand in seine und sieht mich besorgt an. "Du bist nicht nur meine zuverlässigste Mitarbeiterin. Ich fühle mich für dich verantwortlich. Und ich bin beeindruckt davon, wie du mit den Leuten umgehst, auch wenn es dir offensichtlich nicht so gut geht, wie du es oft zeigst. Weißt du, das erinnert mich an meine Frau." Verträumt richtet er seinen Blick an einen Punkt an der Zimmerdecke. Ein paar Sekunden verharrt er so, bis er sich wieder fasst und mich ansieht. Ein glückliches Lächeln ziert sein Gesicht. "Ich möchte mich dir nicht aufdrängen." Er unterstützt seine Worte indem er meine Hand sanft aber bestimmt drückt. "Du sollst nur wissen, dass du mit mir reden kannst, wenn du das möchtest. Du bist nicht alleine."
Mit diesen Worten steht er auf und verlässt meine Wohnung. Ich denke noch eine Weile über seine Worte nach. Soll ich es ihm erzählen? Nein. Ich habe mir geschworen niemals mehr darüber zu reden. Ich will am Liebsten auch gar nicht mehr darüber nachdenken.
Zur Ablenkung nehme ich also das Buch zur Hand und schlage die erste Seite auf. "Sei mein Licht" von Valentina Gabe. Ich beginne zu lesen und tauche sehr bald tief ein in die Geschichte einer jungen Frau, verfolgt von Dämonen, auf der Suche nach einem Ruheort. Einem kleinen Licht, das ihr Hoffnung gibt. Bis sie auf einen besonderen Menschen trifft. Der Nebel, der diese Fantasiewelt umgibt scheint ihm nichts anzuhaben. Die Dunkelheit scheint ihn nicht zu beeinträchtigen. Er nimmt sie bei der Hand und bringt sie an einen Ort, der ihr bisher unzugänglich war. Einen Ort voller Licht und Farben.

Als ich aufschaue, sehe ich, dass die Dämmerung bereits eintritt. Hab ich wirklich den ganzen Tag gelesen? Es ist merkwürdig. Die Geschichte ist so spannend und ich kann so sehr nachfühlen, wie sich die Protagonistin fühlt. Ist es, weil ihre Erlebnisse eine gewisse Ähnlichkeit zu meinem Leben darstellen? Ich lege mich schlafen, um wenigstens morgen wieder arbeiten zu können und ich verspüre eine angenehme Ruhe, die mich überkommt. Ich fühle mich zum ersten Mal seit Jahren verstanden. Dieses Buch hat mir sehr gut getan. Es ist, als würde ich einem guten Freund meine Geschichte erzählen, mich ihm öffnen und dabei endlich verarbeiten können, was ich all die Jahre nur verdrängt habe. Nur, dass ich, wenn ich lese, nicht reden muss. Das Buch ist kein Mensch, der seine eigene Meinung noch einbringt, mich verurteilt oder meine Erlebnisse gleich dem Nächsten, dem er begegnet, erzählt. Friedlich schlafe ich also ein und als mein Wecker klingelt, wache ich doch tatsächlich ausgeruht und entspannt auf. Mit einem seltsamen Gefühl, das ich schon lange nicht mehr so gefühlt habe, erlebe ich den Tag. Man kann fast sagen, dass ich glücklich bin. Das Buch lese ich tatsächlich in kürzester Zeit durch und bin erstaunt, wie befreit ich mich doch fühle. Doch als ich die letzte Seite umblättere und mir einfällt, auf welche Weise dieses Buch zu mir gefunden hat, stelle ich fest, dass ich es wohl oder übel zurück in die Buchhandlung geben muss. Ich werfe mir also meinen Mantel über und mache mich, mit dem Buch unter dem Arm, auf den Weg zur Buchhandlung. Es ist dunkel draußen. Gedankenverloren begebe ich mich auf die andere Straßenseite und stehe kurz darauf vor dem Bücherladen. Mein Herz fängt an schneller zu klopfen. Ich bin nervös. Langsam und vorsichtig betrete ich das Gebäude. "Hallo?" Rufe ich zaghaft in den dämmrigen Raum hinein. Keine Antwort. Ich gehe noch ein paar Schritte weiter, schaue entlang der Regale in den Gang, in dem ich jenes seltsame Erlebnis hatte. Es scheint wieder niemand da zu sein. Ich lege das Buch auf die Theke, streiche noch ein letztes Mal liebevoll über den Einband, bevor ich mich umdrehe und gehen will. "Hat es Ihnen gefallen?" Als ich mich umdrehe steht jener geheimnisvolle Mann vor mir, der mich auch damals schon so erschreckt hat. Wieder zucke ich zusammen. Er tritt aus dem Schatten und bleibt mit einem Abstand von circa einem Meter vor mir stehen. Er lächelt. Wie immer. Misstrauisch betrachte ich ihn. "Warum müssen Sie mich immer so erschrecken? Wer sind Sie überhaupt?" Lautlos bewegt er sich hinter die Theke und nimmt das Buch, das die letzten Tage bei mir verbracht hat, in seine Hände. "Es ist etwas besonderes." Seine Augen glänzen, als er das Buch eingehend betrachtet. "Nicht jeder versteht seine Botschaft." Mit diesen Worten sieht er mich wieder mit diesem intensiven, aber freundlichen Blick an. Unsicher sehe ich von ihm zu dem Buch und wieder zurück. "Ich denke ich gehe jetzt." Um dieser unangenehmen Situation zu entkommen, weiche ich zurück und als mein Gegenüber auch auf diesen Satz nicht reagiert, sondern mich nur weiterhin anlächelt, drehe ich mich um und verlasse die Buchhandlung. Kopfschüttelnd, den Blick auf den Boden gerichtet, bringe ich die Strecke zu meiner Wohnung hinter mich. An der Haustür bleibe ich stehen. Werde ich beobachtet? Ich sehe mich um, die Straße hoch und runter, den Gehweg entlang. Naja in der Dunkelheit sieht man nicht viel, doch ich werde das Gefühl nicht los, nicht alleine zu sein. Also begebe ich mich zügig in meine Wohnung und schließe die Tür ab. Vielleicht war ich auch nur zu tief in der Geschichte. 

Der nächste Tag geht ohne besondere Ereignisse vorbei, weshalb ich auch schnell wieder vergesse, was mich Tags zuvor beschäftigte. Auf dem Weg nach Hause genieße ich die kühle Luft und den Spaziergang durch den Park. Es ist abends so schön ruhig, man kann seinen Gedanken nachhängen oder einfach die Einsamkeit genießen. Das ist immerhin ein guter Grund, weshalb ich tagtäglich diesen Weg wähle. Oft bleibe ich stehen und betrachte ganz bewusst meine Umgebung. Den Schnee, der, von dicken Ästen herunterhängend, von einzelnen Laternen beleuchtet wird oder den abendlichen Himmel, der oft ein paar Sterne sehen lässt. Doch an diesem Abend sehe ich noch etwas anderes. Ein Schatten tritt zwischen den Bäumen hervor. "Hast du mich vermisst?" Bei dieser Stimme gefriert mir das Blut in den Adern.

Ein Engel für RoseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt