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Zwei Monde zuvor

„Schattendrachen!"
Der Warnruf scholl über das flache Grasland.
Die vier Männer und die Frau, die sich im Gänsemarsch durch das wogende Meer der gelbgrünen Halme bewegt hatten, warfen sich augenblicklich zu Boden – doch die beiden grässlichen Kreaturen, die unvermittelt am grauen Himmel aufgetaucht waren, hatten sie bereits erspäht.
Unter markerschütterndem Geschrei, die weiten Schwingen ausgebreitet, stießen sie herab, bereit, sich mit ihren mörderischen Klauen auf alles zu stürzen, was sich am Boden bewegte – doch die Wanderer waren nicht so wehrlos, wie es den Anschein haben mochte.
„Wartet“, zischte der alte Mann mit dem verwilderten schwarzgrauen Haar, das ihm bis über die Schultern hing. Der Blick seiner dunklen Augen war zum Himmel gerichtet, seine knochige Rechte umfasste den Wanderstab aus Lindenholz wie eine Waffe. „Wartet ab“, schärfte er seinen Gefährten ein, die sich neben ihm im hohen Gras duckten. „Bis ich das Kommando gebe!“
Die Kreaturen näherten sich.
Wer sie aus der Ferne sah, hätte sie für schwarzen Rauch halten mögen, dem eine Laune der Natur zufällig Form und Kontur gegeben hatte, doch sie waren ungleich mehr als das. Denn mit jedem Schrei, den sie ausstießen, und mit jedem Flügelschlag wuchs ihre körperliche Präsenz.
Die Aura des Todes, die ihnen vorauseilte, stülpte sich über die Wanderer wie ein dunkler Sack. Sie verfinsterte die fahle Scheibe der Sonne, machte den Tag zur Nacht und ließ das Gras verfaulen. Maden und Würmer wanden sich auf dem Boden, der Odem von Fäulnis und Verwesung breitete sich aus, Furcht griff mit klammer Hand nach den Herzen der Wanderer.
„Jetzt!“, schrie der Alte.
Die Pfeile schnellten von den Sehnen.
Steil stiegen sie in den Himmel und fanden ihr Ziel, durchbohrten schwarze Reptilienhaut, doch für die Ungetüme schienen es nur Nadelstiche zu sein. Einen Lidschlag später waren die Bestien heran und hätten die Wanderer mit ihren Klauen zerfetzt, hätte sich ihnen nicht etwas in den Weg gestellt.
Die Erkenntnis, dass die Pfeile nur der Ablenkung gedient hatten, dass sie nur dazu da gewesen waren, den Zorn der Schattendrachen auf sich zu ziehen, kam den grässlichen Kreaturen vermutlich nie – sie waren nur tumbe Diener, vom bösen Willen eines anderen gelenkt. Der Schlag, der sie traf, war so gewaltig, dass er einen von ihnen auf der Stelle zerschmetterte.
Der Kampfschrei des Schattendrachen endete jäh, als sein Angriff nur wenige Mannslängen über dem Boden abgefangen wurde. Die Kreatur schlug mit den Flügeln, als versuchte sie, einer unsichtbaren Fessel zu entfliehen, dann schien etwas sie zu packen und in der Luft zusammenzupressen. Ihre Flügel wurden gebrochen, ihr schlanker Körper zerquetscht. Dann jagte ein Lichtblitz zum Himmel, der die Kreatur einhüllte und verzehrte.
Auch der andere Schattendrache wurde von der unsichtbaren Faust getroffen, dem Blitz jedoch entging er knapp. Er schlug zu Boden, nur um sich sogleich wieder zu erheben und sich mit weit aufgerissenem, stinkendem Schlund auf die Wanderer zu stürzen. Erneut flogen Pfeile, dann wurden die Klingen aus ihren Scheiden gerissen.
Fauchend griff die Bestie an, ihr mörderischer, zackenbewehrter Schwanz wischte heran. Einer der Männer wurde getroffen und von den Beinen gerissen. Rücklings landete er auf dem Boden, die Augen vor Entsetzen aufgerissen, während der Schattendrache über ihm emporwuchs, bereit, ihn zu zermalmen. Doch schon waren die Gefährten des Verwundeten zur Stelle, allen voran ein junger Mann, der die Augen verbunden hatte – blind war dennoch nicht. Er hatte gelernt, auf andere Weise zu sehen, durch Bilder, die sein Gehör und sein Geruchssinn ihm offenbarten, aber auch durch ein Empfinden, das weit jenseits gewöhnlicher Sinneseindrücke lag.
Sein Schwert beidhändig umklammernd, stürzte er sich auf die Kreatur, um sie von dem wehrlosen Kameraden abzulenken. Mit blitzschnellen Bewegungen brachte er ihr zwei Schnittwunden bei, ehe das grässliche, zackenbewehrte Haupt mit den blutig leuchtenden Augen zurückpendelte und nach ihm schnappte. Gleichzeitig war ein heiseres Zischen zu hören, als das Schattenwesen die kalte Luft einsog, um Tod und Verderben aus seinem Pestrachen zu speien – doch dazu kam es nicht.
Ein weiterer, gleißender Blitz zuckte heran und fuhr in den Schlund der Kreatur, die heiser aufschrie.
„Jetzt!“, brüllten die Gefährten und stürzten sich gleichzeitig auf die riesenhafte Bestie, stießen ihre Klingen bis zum Heft in ihren Leib.
Schwarzer Lebenssaft quoll hervor, wo die Klingen wieder herausgerissen wurden. Der Schattendrache bäumte sich auf, schlug mit den Flügeln, als könnte er so seinem Schicksal entgehen – aber es war zu spät. Ein mächtiger Axthieb zertrümmerte seinen linken Flügel, dann schwirrte eine Schwertklinge heran und durchtrennte seinen Hals. Das Haupt fiel auf den von Fäulnis durchdrungenen Boden, wo es kullernd liegenblieb. Das Leuchten in den Augen erlosch – und schließlich starb, was schon seit Äonen hätte tot sein sollen.
„Verdammt, Druide“, rief einer der Männer, ein ergrauter Hüne mit fast kahlem Haupt und dafür um so üppigerem Bart, „Ihr habt Euch Zeit gelassen!“
„Nicht alles liegt in meiner Macht, mein guter Henquist“, versicherte der Alte, der so entkräftet war, dass er sich auf seinen Stab stützen musste. „Diesen Kreaturen standzuhalten, wird von Tag zu Tag schwerer. Einst waren sie nichts als Schatten, die sich nur des Nachts fortbewegen konnten - nun sind sie im hellen Tageslicht unterwegs, und ihre Stärke wächst beständig. Nur einen konnte ich sogleich vernichten, für den anderen haben meine Kräfte nicht mehr ausgereicht.“
„Aye, Druide, grämt Euch nicht“, knurrte ein anderer, der die derbe Kleidung und lederne Rüstung eines Hochländers trug. Sein ergrautes Haar war schulterlang und zum Zopf gebunden, sein Blick klar und direkt, beinahe stechend. „Wir sind auch so mit dem Vieh fertig geworden.“ Wie um seine Worte zu bestätigen, ließ er seine Axt noch einmal niedergehen und senkte sie in den Kadaver.
„Das darf uns kein rechter Trost sein, tapferer Ferghas.“ Der Alte schüttelte den Kopf. „In den vergangenen Wochen sind wir mehr von diesen Kreaturen begegnet als all den Monden zuvor. Ihr Macht wächst.“
„Dann sollten wir zusehen, dass wir weiterkommen“, drängte Daghan von Ansun, der Mann mit der Augenbinde. Er hatte sich von dem Kadaver abgewandt, der bereits begann, zu zerfallen, und war zu der Frau getreten, die die Gruppe begleitete. Wie Daghan und der Druide trug sie grüne Waldläuferkleidung, die sie den Blicken neugieriger Beobachter entziehen sollte. Und wie die Männer hatte auch sie ihr Schwert gezogen, bereit, ihr Leben teuer zu verkaufen. Sie war von ruhiger Schönheit, mit grünen, an ihr elfisches Erbe gemahnenden Augen und langem schwarzem Haar, das sie zu einem Zopf geflochten hatte. Ihre einstmals vornehm blassen Züge waren sonnengebräunt und von anhaltender Strapaze gezeichnet. Dennoch stand eiserne Entschlossenheit darin zu lesen.
Ihr Name war Aryanwen, und sie war die rechtmäßige Erbin des Throns von Tirgaslan. Doch in diesen Tagen spielte das keine Rolle. Die Machtverhältnisse in Erdwelt hatten sich geändert – und mit ihnen auch die Dinge, die wichtig waren.
„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Dag und drehte den Kopf in ihre Richtung.
„Ja“, versicherte sie, aber dem Beben in ihrer Stimme war zu entnehmen, dass das nur die halbe Wahrheit war. Nur mit Mühe konnte sie die Tränen zurückhalten.
„Die Biester sind tot“, versicherte Dag. „Sie können uns nichts mehr anhaben.“
„Das ist es nicht, und das weißt du auch“, widersprach sie. „An die ständige Bedrohung durch die Schattendrachen habe ich mich gewöhnt. Aber jedes Mal, wenn sie uns angreifen, habe ich schreckliche Angst, dass ... dass ...“ Sie unterbrach sich, wollte die Worte nicht aussprechen.
„Dass wir unsere Suche womöglich nie zu Ende bringen werden“, fügte Dag hinzu. 
Er konnte nicht sehen, wie sie nickte, aber sie kannten einander so lange und gut, dass das auch nicht nötig war. 
Schon damals, als der Krieg zwischen den Menschenreichen Tirgaslan und Ansun getobt hatte, war es ihre Liebe gewesen, die alle Gegensätze überbrückt und die einstigen Feinde zusammengeführt hatte, damit sie sich gemeinsam der Bedrohung durch die Zwerge entgegenstellten. Und als die Menschen den Krieg verloren hatten und der Zwergenkönig Winmar durch Verrat und dunklen Zauber triumphierte, hatte ihnen dieser unlösbare Bund Mut und Hoffnung gegeben. Nie hatte ihre Liebe in Zweifel gestanden, selbst dann nicht, als Aryanwen nach dem Tod ihres Vaters Tandelor dem Marionettenkönig Lavan zur Frau gegeben worden war, und als Dag, der einzige Sohn Herzog Osberts von Ansun, nicht nur seines Titels und Besitzes, sondern auch seines Augenlichts beraubt worden war und sich in den östlichen Wäldern verkrochen hatte, in Selbstmitleid und Verzweiflung versunken. Dort hatte Dwethan ihn schließlich gefunden, der alte Druide, und ihm die Augen für die Wahrheit geöffnet.* 
Doch das lag lange zurück.
Zwei Sommer und zwei Winter waren seither vergangen, in denen Dag und Aryanwen alles daran gesetzt hatten, das Kostbare wiederzufinden, das ihnen genommen worden war. Nur für kurze Zeit war es Aryanwen vergönnt gewesen, ihr neugeborenes Kind in den Armen zu halten, jenes winzig kleine und doch so lebendige Wesen, dem vom ersten Atemzug an ihre ganze Liebe gehört hatte.
Ihre gemeinsame Tochter ... Alannah.
Vor die Wahl gestellt, ihr Kind in tödliche Gefahr zu bringen oder sich von ihm zu trennen, hatte sich Arynwen für letzteres entscheiden müssen. In höchster Bedrängnis hatte sie Alannah zwei Gestalten anvertraut, die von allen Kreaturen Erdwelts wohl am ungeeignetsten waren, um für ein Menschenkind zu sorgen: den Orks Balbok und Rammar.
In ihrer Verzweiflung und dem womöglich völlig unberechtigten Vertrauen darauf, dass die beiden halten würden, was die Geschichtsbücher über sie behaupteten, hatte Aryanwen ihnen ihr Kind geben müssen - und diese Entscheidung hatte sich bitter gerächt. Denn die Orks hatten Alannah nie in die Hügellande gebracht, wie es vereinbart gewesen war. Jedenfalls waren sie dort niemals angekommen. Oder an sonst einem Ort, von dem eine Nachricht zu ihr hätte hervordringen können.
Entweder, ihnen war unterwegs etwas zugestoßen und sie waren dem Angriff eines Schattendrachen oder einer Kaldrone zum Opfer gefallen. Oder aber – und darin lag Aryanwens letzte, leise Hoffnung – die Orks hatten einen anderen Weg eingeschlagen.
Zwar konnte sie sich keinen vernünftigen Grund dafür denken, jedoch waren Balbok und Rammar, wie sie stets behaupteten, zwei Orks aus echtem Tod und Horn, und das bedeutete, dass sie nicht nur die ihrem Volk eigene Schlichtheit, sondern auch dessen Sturheit besaßen.
Anfangs war Aryanwen noch guter Dinge gewesen, dass sie die Orks noch einholen und das Kind rasch zurückbekommen würden. Doch jeder volle Mond, der verstrich, ohne dass sie die kleine Alannah wieder in ihren Armen hielt, hatte an ihrer Zuversicht genagt, und längst war es die Furcht, die alles überwog. 
Nachdem sie die Hügellande abgesucht hatten, ohne auch nur auf einen Klauenabdruck der beiden Orks zu stoßen, hatten sie sich nach Osten gewandt. Die Städte der Menschen, von Arquat bis Suquat und von Girnag bis Suln, hatten sie ebenso aufgesucht wie Dags Heimatstadt Andaril, die inzwischen fest in der Hand der Zwerge war. Von der kleinen Alannah jedoch fehlte jede Spur.
Also hatten sie ihre anstrengende Suche noch weiter ausgedehnt, hatten sich die Siedlungen im Süden vorgenommen und den Wald von Trowna bis an die Gestade des Meeres; wann immer sich ein Hinweis ergeben hatte, waren sie ihm gefolgt, doch am Ende hatte sich alles als Irrweg erwiesen.
Schließlich hatten sie sich nach Norden gewandt und die weite Ebene von Scaria durchkämmt, die durch den Krieg zwischen Menschen und Zwergen zum Ödland geworden war. Die Felder waren verwüstet; Tod und Pestilenz herrschten, wo Äcker einst reiche Frucht getragen hatten; Schattendrachen und plündernde Orksöldner, die keinen Herren mehr hatten, verbreiteten Angst und Schrecken. Nur Tirgaslan, die alte Königsstadt, hatte noch Bestand; nach dem Tod König Lavans war dort ein Statthalter des Zwergenkönigs an die Macht gelangt, der über den riesigen steinernen Moloch herrschte. Daran, dass es ihr Recht gewesen wäre, den Thron von Tirgaslan zu besteigen, dachte Aryanwen nicht. Ihre Gedanken galten allein ihrem Kind, das sie seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte und dessen Antlitz ihr ständig vor Augen war, davon abgesehen, dass es heute ganz anders aussehen würde. Wenn es noch lebte. 
"Verdammte Biester." Henquist trat mit dem Fuß gegen den Kadaver. "Was treiben sie so weit im Westen?"
"Die Schattendrachen sind die Augen unseres Feindes", entgegnete der alte Dwethan düster. "Und sie suchen dasselbe wie wir. Winmar weiß, dass euer gemeinsames Kind der Erbe der Menschenreiche ist - und dass es ihm eines Tages gefährlich werden könnte. Also lässt er seine Schergen danach suchen."
"Er darf Alannah nicht vor uns finden", erinnerte Aryanwen ihn, wie so oft zuvor. "Auf keinen Fall."
"Das weiß ich nur zu gut. Er darf es nicht finden, wenn es noch etwas zu finden gibt", knurrte Henquist mürrisch, um gleich darauf ein halblautes "Verzeiht, Königin", hinterherzuschicken.
„Nenn mich nicht so. Du weißt, dass ich keine Königin mehr bin. Und streng genommen war ich es nie.“
„Für mich werdet Ihr immmer eine Königin sein“, beharrte Henquist. „So wie ich jederzeit mein Leben opfern würde, um Euch oder den jungen Herzog zu retten. Aber unsere Suche währt nun bereits zwei Sommer, und ich frage mich ob wir nicht ...“
„Aufgeben sollten?“, führte Aryanwen fort.
„In all der Zeit haben wir nichts gefunden“, gab der Kämpe zu bedenken. „Von den beiden Grünhäuten keine Spur, dafür Zerstörung, wohin das Auge blickt. Und diese Kreaturen.“ Er stieß abermals mit dem Fuß gegen die jetzt rasch zerfallenden Überreste des Schattendrachen. „Wie lange wollen wir noch so weitermachen?“
„Bis wir entweder tot sind oder gefunden haben, wonach wir suchen“, antwortete Dag an Aryanwens Stelle.
"Fünf von uns haben diese Suche bereits mit dem Leben bezahlt, Herr! Dugay – tot, von einer Donnerbüchse niedergestreckt. Gladwyn – von einer Kaldrone zermalmt. Der Rest – gestorben an Entbehrung und an vergiftetem Wasser. Der Tod ist wohlfeil in diesen Tagen."
„Aye.“ Ferghas, der leibliche Bruder des Clansfürsten Anghas Ca’Dur, nickte nachdenklich. „Auch ich bin müde“, gestand er. „Meine Glieder schmerzen, und ich habe es satt, ruhelos umher zu wandern. Verzeiht, aber ich möchte endlich wieder nach Hause und die grünen Hügel meiner Heimat sehen …“ 
„Das kann dir niemand verdenken“, erwiderte Aryanwen. „Aber“, fuhr er fort, „wenn auch nur die geringste Hoffnung besteht, dass Euer Kind noch am Leben ist, würde ich mir lieber die Beine abhacken, als unverrichteter Dinge nach Hause zu gehen. Die Frage ist nur, wie unsere Suche weitergehen soll. Womöglich hat Henquist recht, und die Grünhäute haben das Kind es irgendwo zurückgelassen, um sich selbst zu retten – wie können wir dann jemals hoffen, es zu finden? Was meint Ihr, Druide? Ihr wisst doch sonst auch alles.“
„Manches in der Tat“, verbesserte Dwethan, "aber längst nicht alles. Einst vermochte ich die Zukunft zumindest in Teilen vorherzusehen, aber meine Kräfte haben nachgelassen. Durch das Eingreifen der Orks ist das Element des Chaos hinzugekommen, das sich nur schwer voraussehen lässt. Auch ich vermag deshalb nicht zu sagen, was der kleinen Alannah widerfahren ist.“
„Sie ist am Leben“, beharrte Aryanwen leise.
„Aye, das hoffen wir alle“, räumte Ferghas ein, „die Grünhäutigen sind jedoch schwer zu durchschauen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Ork aus einer Laune heraus eine Katastrophe vom Zaun bricht.“
Aryanwen nickte. „Dennoch dürfen wir nicht an Balbok und Rammar zweifeln. Unser Kind ist am Leben, irgendwo auf dieser Welt. Das spüre ich.“
„Ich wünschte, ich könnte dasselbe sagen“, gestand Dwethan leise. „Inzwischen sind viele Dinge geschehen, die ich nicht vorhergesehen habe. Die Welt hat sich verändert, und nicht zum Guten.“
„Die Dunkelkeit ist auf dem Vormarsch, das habt Ihr selbst gesagt, Druide“, stimmte Henquist zu. „Sollten wir also nicht lieber heimkehren, um unsere Familien zu beschützen?“
„Diesen Wunsch kann ich gut nachvollziehen“, versicherte Dag. „Meine Familie ist hier, deshalb bin ich am rechten Ort, aber für euch gilt das nicht. Wenn ihr also gehen wollt, steht euch das frei. Ihr habt uns lang und treu gedient, wir stehen tief in eurer Schuld.“
„Und Ihr?“, fragte Henquist. „Was werdet Ihr tun?“
„Weiter nach Westen gehen. Auf die andere Seite des Schwarzgebirges.“
„Ihr ... Ihr wollt in die Modermark?“, fragte Henquist unngläubig. „Nachdem wir den Schattendrachen nur mit knapper Not entkommen sind, habt Ihr jetzt vor, in die Modermark zu marschieren? In die angestammte Heimat von allem, was uns Menschen feindlich gesinnt ist?“
„Balbok und Rammar stammen von dort“, stimmte Aryanwen zu. „Vielleicht sind sie in ihre Heimat zurückgekehrt und haben Alannah mitgenommen.“
„Selbst wenn – die Modermark ist auch die Heimat von Gnomen, Trollen und anderen Kreaturen, deren Namen wir noch nicht einmal kennen! Glaubt Ihr im Ernst, dass ein Menschenkind dort überleben kann?“
„Das muss ich wohl“, erklärte Aryanwen mit bebender Stimme.
„Wir zwingen niemanden, mit uns zu kommen“, stellte Dag klar. „Ihr alle habt uns lange begleitet und mehr getan, als wir jemals erwarten konnten. Vielleicht ist es uns bestimmt, von nun an allein zu gehen.“
„Da würdet ihr nicht weit kommen“, war Ferghas überzeugt und schwang seine Axt. „Deine Fertigkeiten in allen Ehren, Junge, aber gegen eine Horde wilder Orks hättet ihr allein keine Chance. Ich komme also mit euch – zumal ich meinem Bruder und Clansherrn einen Schwur geleistet habe, wie ihr wisst.“
"Sei's drum." Henquist trat ein drittes Mal nach dem Kadaver, der auf unheimliche Weise bereits fast vollständig zerfallen war. Die Natur holte sich innerhalb von Augenblicken zurück, was dunkle Magie ihr über Jahrhunderte vorenthalten hatte. "Ich bin ebenfalls dabei. Ich habe dem Haus Ansun Treue geschworen - ich werde es nicht ausgerechnet jetzt im Stich lassen "
„Also bleiben wir zusammen.“ Dwethan nickte.
„Ihr wirkt darüber nicht überrascht“, stellte Ferghas fest.
„Natürlich nicht – weil es irrig wäre zu glauben, dass wir eine Wahl haben.“
„Was meint Ihr damit?"
„Dass wir gar nichts anderes tun können, als weiter nach diesem Kind zu suchen. Dieses Mädchen, meine Freunde, ist die Zukunft von Erdwelt, wir brauchen es so notwendig wie die Luft zum Atmen. Es trägt das Erbe von Elfen und Menschen in sich und vereint das Blut beider Herrschergeschlechter. Sollte es nicht mehr am Leben sein, so bedeutet es auch für Erdwelt das Ende.“
„Und das heißt?“, fragte Henquist.
„Dass dieselbe Finsternis, die die Schattendrachen hervorbringt, uns alle verschlingen wird“, antwortete der Druide.

Kampf der Könige - LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt