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Es war eine eigentümliche Prozession, die durch die Straßen von Tirgas Anar marschierte.
Tirgas Anar ...
Schon den Namen auszusprechen, galt in diesen Tagen als todeswürdiges Verbrechen. Denn seit Winmar der Steinerne, der sich zum König über ganz Erdwelt aufgeschwungen hatte, seinen Herrschersitz von Gorta Ruun auf die andere Seite des Reiches verlagert hatte, hieß die Stadt "Tirgas Winmar". Wer sie bei ihrem alten Namen nannte, fand seinen Kopf auf den spitzen Pfeilern der Verteidigungslinie aufgespießt wieder, die sich vor der Stadt als unüberwindbarer Wall über den Klippen der Ostsee erhob.
Ein Leben galt nicht viel in diesen Tagen - vor allem dann nicht, wenn es einem Menschen gehörte. Winmar und seine Zwerge hatten eine wahre Schreckensherrschaft in der Stadt errichtet, die sich an den Feuerberg schmiegte, nach Norden hin geschützt von dessen steilen Hängen, nach Süden von den Pfeilern des Todes.
Die Zwerge hatten ihre eigene Geschichte darüber, wie der Feuerberg und die Pfeiler entstanden waren. Am Anbeginn der Zeit, so hieß es, als unzähliger Schmiede Arbeit dafür gesorgt hatte, dass das Feuer im Inneren der Welt eingeschlossen wurde, ließ ein Schmied, den die Überlieferung nur schlicht den "Hammermann" nannte, eine Lücke im Schild der Erde. Dort erhob sich das Feuer aus dem Inneren und formte einen Vulkan, in dessen Tiefen bis zum heutigen Tag flüssiges Gestein in glühenden Pfuhlen brodelte. Und wehe, wenn es an die Oberfläche stieg ...
Der letzte Ausbruch des Feuerbergs lag mehr als fünfhundert Jahre zurück. Zur Regierungszeit König Corwyns war dies geschehen*, als Tirgas Anar schon einmal in Dunkelheit und Chaos versunken war. Nach erbittertem Kampf war die Stadt damals erobert worden. Doch das Böse war zurückgekehrt, wenn auch anders als zuvor.
Was Winmar den Steinernen dazu bewogen hatte, seinen Herrschersitz hierher zu verlegen, konnte Alured nur vermuten. Er musste gute Gründe dafür gehabt haben, denn durch den Umzug hatte sich der Zwergenkönig angreifbar gemacht, wie nicht zuletzt die Seeschlacht an der Engwacht bewiesen hatte. Lavan, der von Winmars Gnaden eingesetzte Marionettenkönig von Tirgas Lan, hatte eine Chance gewittert, seinen Herrn vom Thron zu stoßen. In aller Eile hatte er Schiffe ausgerüstet und Winmars Flotte bei der Insel Olfar aufgelauert. Nicht viel hätte gefehlt, und die Aufständischen hätten den Sieg davon getragen, aber dann hatte sich das Schlachtenglück gewendet und Winmar war entkommen.
Zwei Jahre waren seither vergangen, aber noch immer wusste Alured, der sich als blinder Passagier auf eines von Winmars Schiffen geschlichen hatte, um die Absichten des Zwergenkönigs auszukundschaften, beim besten Willen nicht, was damals wirklich geschehen war. Geflügelte Kreaturen waren aufgetaucht, Schattenwesen wie aus einer anderen Welt und Wirklichkeit, und hatten Lavan und seine Leute in die Flucht geschlagen. Damit war vor aller Welt klar geworden, dass Winmar mit dunklen Mächten im Bunde stand.
Die Niederlage seiner Feinde war vollkommen gewesen, ebenso wie sein Sieg. Als Triumphator war er in Tirgas Anar eingezogen, dessen Bewohner sich ihm bereitwillig unterworfen hatten.
Seit diesem Tag hatte ihn niemand mehr gesehen.
Dennoch war Winmar der Steinerne allgegenwärtig.
Von dem großen Turm aus, die sich hoch über den an den Hängen emporwachsenden Häusern erhob, herrschte er mit eiserner Hand über die Stadt. Furcht hielt die Einwohner gefangen, denn die Schergen des Dunklen Königs, wie man Winmar inzwischen nannte, waren überall. Wer seine Stimme erhob oder auch nur den Eindruck erweckte, kein loyaler Untertan zu sein, verlor die Zunge oder gleich den Kopf. Noch schlimmer jedoch war der Kult, der zusammen mit Winmar Einzug gehalten hatte.
An allen öffentlichen Plätzen der Stadt waren Statuen errichtet worden, die den Zwergenherrscher zeigten. Wer eine solche Statue passierte, war angehalten, niederzuknien und Winmar zu huldigen; wer sich weigerte, verlor das Leben. Nackte Furcht hatte daraufhin um sich gegriffen, genährt von Zwergenpriestern, die durch die Straßen zogen und die Menschen ängstigten. „Diener des Schattens“ nannten sie sich und erzählten, dass das Ende der Menschen gekommen sei, wenn sie sich ihnen nicht anschlossen und dem Dunklen König Treue schworen.
Anfangs waren es nur ein paar gewesen, die ihnen folgten, doch dann war die Angst, die in den Straßen herrschte, in puren Fanatismus umgeschlagen. Immer mehr Menschen hatten sich dem Kult der Schatten angeschlossen. In lärmenden Prozessionen zogen sie durch die Stadt, angeführt von Zwergenpriestern, zum Turm hinauf, wo sie dem Dunklen Herrscher huldigten und Opfergaben brachten.
Anfangs waren dies nur materielle Dinge gewesen: Gold, Edelsteine und andere Habe aus dem Besitz der Menschen, die Winmars Schergen bereitwillig entgegengenommen hatten – die ohnehin schon prall gefüllte königliche Schatzkammer musste bereits aus allen Nähten platzen.
Doch dann hatte es geheißen, dass der Dunkle König von den Einwohnern seiner Stadt noch größere Opfer forderte, wenn sie ihn ihrer Loyalität versichern wollten – und er hatte damit begonnen, Menschenleben zu verlangen.
Das Entsetzen unter der Bevölkerung war groß gewesen, aber wiederum nicht so groß wie ihre Furcht. Schon am nächsten Tag hatten sie ihm einen der Ihren ausgeliefert, einen Dieb, der wenige Tage zuvor auf dem Marktplatz gefasst worden war. So hatten sie sich eine Weile lang beholfen und ihrem Herrscher die ungeliebten Kinder der Stadt geschickt. Doch irgendwann waren ihnen die Mörder und Diebe, die Betrüger und Vergewaltiger ausgegangen. Deshalb bestimmte seit einigen Monaten das Los darüber, wer sich opfern, wer den Priestern durch das Tor der Schatten ins Innere von Winmars Turm folgen musste. Was dort mit ihnen geschah, wusste niemand, aber Alured bezweifelte, dass es ein erstrebenswertes Schicksal war.
Mehrmals hatte er erfolglos versucht, sich ins Innere des Turmes zu schleichen, von dem es hieß, dass sich seine Wurzeln bis weit ins Innere des Feuerberges erstreckten; beim letzten Versuch war Alured um ein Haar erwischt worden. Seither versuchte er, sich unauffällig zu verhalten und möglichst unsichtbar zu bleiben – sein ganzes Bestreben war inzwischen darauf gerichtet, aus Tirgas Anar zu entkommen.
In den ersten Tagen, nach Winmars Sieg über König Lavan, als die Zwergenflotte im Hafen von Tirgas Anar angekommen und die ganze Stadt im Aufruhr gewesen war, wäre dies noch ein Leichtes gewesen. Damals aber war Alured geblieben; der Auftrag, den Daghan von Ansun ihm erteilt hatte, lautete, möglichst viel über die Stärke und die Pläne König Winmars herauszufinden, und diese Aufgabe hatte er noch längst nicht erfüllt.
Also war Alured geblieben - ein Entschluss, den er inzwischen bitter bereute.
Denn herausgefunden hatte er nichts, dafür saß er jetzt hier fest, in dieser Stadt, in der der Angst und Furcht regierten. Wer hinaus wollte, musste es entweder mit den schroffen Hängen des Feuerberges oder den Pfeilern des Todes aufnehmen, vor allem aber mit den Wachen, die die Tore, Mauern und Türme besetzten und jeden töteten, der sich unerlaubt näherte.
Die Schlinge zog sich immer enger um seinen Hals, Alured konnte sie bereits fühlen. Die belebten Viertel der Stadt mied er längst, trieb sich lediglich in den dunklen Ecken herum, und das meist nur nach Einbruch der Dunkelheit. Die Gesellschaft, in der er sich befand, war entsprechend geartet, Gauner, Betrüger und Fremde, die danach trachteten, dem Lostopf zu entgehen. Das Geld saß locker bei diesen Leuten, ebenso wie der Dolch; man lebte das Heute und scherte sich einen Dreck um das, was kommen würde, kannte weder Skrupel noch Mitgefühl. Es war ein täglicher Kampf ums Überleben, den nur überstand, wer stets wachsam war. Entsprechend hatte Alured sich angewöhnt, niemandem zu vertrauen und seinen Aufenthalt stetig zu wechseln; Ruhe fand er nur selten, und auch dann schlief er meist nur für Augenblicke, während seine übrigen Sinne alarmiert blieben und auf der Hut ...
So wie jetzt.
Unter dem Vorsprung eines der schindelgedeckten, nach oben gewölbten Dächer, die für die Bauweise dieser Gegend typisch waren, hatte er vor dem Regen Zuflucht gesucht, der am späten Nachmittag eingesetzt hatte. Die umliegenden Dächer lagen hinter grauen Schleiern, in den Schmutzrinnen der steilen Gassen plätscherten Sturzbäche zu Tal. Dennoch suchte sich die Prozession unbeirrt ihren Weg hinauf zum Turm, der spiralförmig war, gewunden wie der Körper einer Schlange. Wer ihn einst errichtet hatte, war nicht bekannt, aber es hieß, dass er alt war.
Sehr alt ...
Ein Zwergenpriester ging voraus, eine Laterne in der Hand, die der Dunkelheit und dem Regen trotzte. Gefolgt wurde er von rund fünfzig Sektierern, allesamt Menschen. Ihre Kleider waren bis auf die Haut durchnässt, was ihnen aber gleichgültig zu sein schien. Monoton wiederholten sie den Singsang, den der Zwergenpriester ihnen vorgab, Alured sah den Fanatismus in ihren Augen leuchten.
In ihrer Mitte führten sie einen Karren, der von zwei Ochsen gezogen wurde. Darauf stand, mit Ketten gefesselt, eine junge Frau. Ihr zarter Wuchs, die schmalen Augen und das pechschwarze Haar kennzeichneten sie als Tochter der Stadt. Das graue Hemd, das sie trug, war vom Regen durchnässt und der Stoff dadurch durchsichtig geworden, so dass sie eigentlich nackt auf dem Karren stand. Dennoch strahlte sie eine Ruhe und Würde aus, für die Alured sie bewunderte – und für die er ihre Häscher um so mehr verabscheute.
Instinktiv fühlte er sich an eine andere junge Frau erinnert, die er gekannt hatte.
Und geliebt ...
Er wischte den Gedanken sofort wieder beiseite, denn er bereitete ihm nur Schmerz. Wer an diesem Ort überleben wollte, der musste lernen, Gefühle zu verdrängen.
Allein das Überleben zählte.
Dennoch: der Anblick der jungen Frau ließ ihm keine Ruhe.
Von seinem hohen Versteck aus blickte er ihr nach, bis sich der Zug mit dem Karren die Straße hinauf geschleppt und um eine Biegung verschwunden war. Ein Teil von ihm erwog, den Sektierern zu verfolgen und den Versuch zu unternehmen, die Gefangene zu befreien, aber er verwarf den Gedanken gleich wieder.
Was für einen Unterschied hätte es gemacht, ein Leben zu retten in dieser Stadt, in der das Böse regierte und die ohnehin vor die Hunde ging?
Auch Alured war abgestumpft, war gleichgültig geworden gegenüber dem Schicksal anderer. Es gefiel ihm nicht, aber es störte ihn auch nicht so sehr, dass er etwas dagegen unternommen hätte. Warum auch? Es war eine weitere wichtige Voraussetzung, wenn man in der Stadt des Dunklen Königs überleben wollte.
Aber warum fühlte er sich dann schlecht deswegen?
Warum regte sich sein Gewissen?
Alured ahnte, dass es nicht so sehr mit der Frau auf dem Karren zusammenhing, sondern mit jener anderen, die er zurückgelassen hatte ...
Der Schmerz kehrte zurück, diesmal so heftig, dass er ihn nicht einfach beiseite wischen konnte. Wem versuchte er, sich etwas vorzumachen? Sich selbst? Oder allen anderen?
Er war ein menschliches Wesen, aber diese elenden Zwerge brachten ihn dazu, nach und nach zu einem der Ihren zu werden, innerlich wie äußerlich zu versteinern.
Alured erwog, von seinem hohen Sitz herabzuklettern und eine der Spelunken aufzusuchen, die einigermaßen genießbaren Wein ausschenkte. 
Aber vielleicht gab es auch noch eine andere Möglichkeit ...
Vorsichtig erhob er sich auf dem schmalen Balken und beugte sich so weit nach vorn, wie er es riskieren konnte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren und in die Gasse zu stürzen. Zwischen Türmen und schiefen Dächern hindurch erheischte er einen Blick auf den Zug der Sektierer.
Und fasste einen Entschluss.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 17, 2014 ⏰

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