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"Sie kommt."
Der Warnung, die Bertin seinen Leuten zuraunte, hätte es nicht bedurft - das stampfende Geräusch, mit dem sich die Kaldrone ankündigte, war unüberhörbar, ebenso wie das grässliche Zischen, das den Kampfkoloss auf seinem Weg über die Brücke begleitete.
Es war ein Kriegsgerät der ersten Generation - ein kugelförmiges, eisernes Gebilde, das auf kurzen Beinen ging und mechanische Arme hatte, mit denen es eine riesige Axt und einen Hammer schwang. Gesteuert wurde die Kaldrone von einem Zwergenkrieger, der im Inneren der Kugel kauerte und die todbringenden Vorrichtungen lenkte. Ein Gittervisier, das über den breiten Bauch der Kaldrone verlief, sorgte dafür, dass der Steuermann Sicht nach vorn hatte - und war zugleich der verwundbarste Punkt des Kolosses.
Bei den Kaldronen neuester Bauart war das Gitter deshalb durch eine mit Sichtlöchern versehene Panzerplatte ersetzt worden; doch die Kampfmaschinen, die in der Festung Gorta Ruun ihren Dienst versahen, gehörten fast ohne Ausnahme der älteren Baureihe an. Der Grund dafür lag auf der Hand: Winmar, der Herrscher der Zwerge und Menschen, war aus Gorta Ruun abgezogen und residierte jetzt in Tirgas Anar, das er nach sich selbst in "Tirgas Winmnar" umbenannt hatte. Die Kampfmaschinen der neuen Generation hatte er mitgenommen, auf dass sie auch an seinem neuen Herrschersitz Angst und Schrecken verbreiten - die alten hingegen hatte er zurückgelassen. Im Auftrag von Winmars Hofalchemisten, die seither über die Festung herrschten, unterdrückten sie die Bevölkerung - aber es regte sich Widerstand.
Gleich mehrere Rebellengruppen gab es inzwischen, die der Schreckensherrschaft der Alchemisten trotzten. Doch keine war auch nur annähernd so berüchtigt wie jene Bertins.
"Brüder des Zorns" nannten sie sich.
Und diese Bezeichnung hatte sie nicht grundlos gewählt ...
Das Stampfen der Kaldrone schwoll an und wurde ohrenbetäubend laut, bei jedem ihrer Schritte fauchte heißer Dampf aus ihren Gelenken. Es musste dieselbe Kaldrone sein, die in Schieferhall, einem der höher gelegenen Bezirke der Stadt, ein furchtbares Blutbad unter der Bevölkerung angerichtet hatte. Und dabei hatten die Leute dort nur zu fragen gewagt, wann sie endlich wieder Brot zu essen bekämen. Die riesige Axt, an noch trockenes Blut klebte, verriet, welche Antwort die Kaldrone ihnen gegeben hatte.
"Nur weiter", knurrte Bertin in seinen Bart, der inzwischen bis zum Kinn reichte und sein blasses Gesicht zur Hälfte bedeckte. "Nur noch ein kleines Stück weiter ..."
Vorsichtig spähte er über den Rand des Felsblocks. Dado auf der linken Flanke war bereit zum Losschlagen, ebenso wie Runward Eisenherz, der die andere Seite übernommen hatte. Obwohl Runward älter war als Bertin und seinen Bart bereits geflochten trug, akzeptierte er ihn als Anführer, ebenso wie all die anderen, die sich seiner Gruppe angeschlossen hatten. "Bertin Zwergenhammer" nannten sie ihn, nach dem Werkzeug, das er von seinem Vater, dem Steinmetz Drogo, geerbt hatte. Es trug den Namen Martog und hatte einst dazu gedient, dem Fels der Berge unsterbliche Kunstwerke zu entlocken – nun schlug der Hammer die Schädel jener ein, die das Volk grausam unterdrückten. Auf diese Weise war er zum Symbol des Widerstands gegen König Winmar und seine Alchemistenbrut geworden.
Aber Martog war nicht die einzige Waffe, derer sich Bertin bediente. Zwar trug er den Hammer stets bei sich, doch die Donnerbüchse, die er vor zwei Monden bei einem Überfall erbeutet hatte, verrichtete noch weitaus zuverlässigere Dienste. Ein schwarzgraues, hochentzündliches Pulver sorgte dafür, dass Kugeln aus Blei oder Eisen aus dem trichterförmigen Lauf der Donnerbüchse jagten - und beim Gegner entsetzlichen Schaden anrichteten. Das Getöse, das eine solche Waffe veranstaltete, war unbeschreiblich, die Wirkung war es ebenso. Keine Armbrust konnte es an Wucht und Durchschlagskraft mit einer guten Donnerbüchse aufnehmen. Und Bertin hatte gelernt, gut damit zu zielen.
Die Kaldrone war jetzt nah genug heran.
Sie hatte mehr als die Hälfte der Brücke überquert, die sich über den achtzig Schritt breiten Abgrund spannte - und war damit in Reichweite von Bertins Kugeln.
Geladen hatte er die Waffe bereits. Jetzt ging er in Stellung, presste den mit reichen Schnitzereien verzierten Kolben an seine bärtige Wange, hielt die Luft an und zielte.
Gleich, nur noch ein Augenblick ...
Jetzt.
Bertins Finger rissen am Abzughebel. Ein mechanisches Klicken, und die Wucht der Donnerbüchse fuhr ihm in die Schulter.
Ein Funke, ein Feuerstoß, dazu ein infernalischer Knall, der von der gegenüber liegenden Wand der Schlucht zurückgeworfen wurde - aus dem Trichter war, viel zu schnell für zwergische Augen, ein kantiges Stück Eisen gefegt, zur Brücke hinübergeflogen und durch das Gitter der Kaldrone geschlagen.
Schon wollte Bertin die Arme hochreißen und sich selbst zu diesem Meisterschuss gratulieren, als er begriff, dass die Kaldrone unbeirrt weiterstampfte - geradewegs in das Seil, das quer über die Brücke gespannt war.
Das Geflecht aus Höhlenwurmgedärm, das eigentlich dazu hatte dienen sollen, den Sturz der Kaldrone aufzufangen, spannte sich zum Zerreißen, gab jedoch nicht nach. Und so strauchelte die Kaldrone und kam zu Fall, schlug zu Boden, wo sie, einem feisten Käfer gleich, mit hilflos um sich schlagenden Armen liegen blieb.
"Angriff!", brüllte Bertin aus Leibeskraft.
Die Büchse warf er sich kurzerhand über die Schulter und griff stattdessen nach Martog, der schon bereit lag. Den Hammer mit beiden Händen umklammernd, setzte er über die Felsen, hinter denen er sich verschanzt hatte, und rannte auf die Brücke zu. Gleichzeitig kamen auch Dado und Runward mit ihren Leuten aus den Verstecken, und alle stürzten sie sich auf die Kaldrone, die vergeblich versuchte, wieder auf die Beine zu kommen.
Der Zusammenstoß war ebenso kurz wie heftig.
Funken stoben, als Äxte und Hämmer der Freiheitskämpfer auf die Waffen des Kampfkolosses trafen, der zwar am Boden lag, jedoch alles andere als wehrlos war. Einer von Bertins Leuten, der so unvorsichtig war, sich der Axt zu nähern, wurde von ihrem Blatt erfasst und enthauptet. Unter fürchterlichem Wutgebrüll stürzten sich seine Gefährten daraufhin auf die waffenstarrenden Gliedmaßen der Kaldrone und schlugen so lange darauf ein, bis sie sie vom Rumpf getrennt hatten.
Dann wälzten sie den Koloss herum und droschen auf das Gitter, bis es aus den Scharnieren brach. Bertin setzte vor, bereit, den Steuermann im Inneren der Kaldrone, der wie durch ein Wunder dem Geschoss der Donnerbüchse entgangen sein musste, mit dem Hammer zu erschlagen.
Doch es kam anders.
Denn in der Kaldrone befand sich kein Zwerg aus Fleisch und Blut - sondern nur ein Schatten.
Eine Kreatur, die zwar die Umrisse und Formen eines Zwergenkriegers besaß, jedoch kein Gesicht hatte. Schwärze klaffte dort, wo das Antlitz des Mannes hätte sein sollen.
"Was bei den Feuern von Karak Nor ...?"
Einen Augenblick lang war Bertin zu entsetzt, um zu reagieren. Dann fielen seine Mundwinkel vor Abscheu nach unten, und er hieb mit dem Hammer zu.
Martog fuhr nieder - den Schattenkrieger traf er jedoch nicht. Denn in dem Augenblick, da der Hammer sie zu berühren drohte, verflüchtigte sich die dunkle Gestalt, wurde zu einem schwarzen Schemen, der aufstieg und davonwehte wie Kaminrauch im Abendwind. Bertin stieß eine Verwünschung aus, Dado und einige andere Zwerge warfen sich erschrocken zu Boden und schirmten die Häupter mit den kurzen Armen. Doch schon Augenblicke später war der Spuk vorbei und die schattenhafte Gestalt verschwunden.
"Was, beim großen Hammer, war das?", wetterte Runward, der als erster die Sprache zurückgewann. Sein pechschwarzes Haar hatte er zu einem Schopf gebunden, sein von der Arbeit an der Esse gezeichnetes Gesicht war mit der Rune seiner Familie tätowiert.
"Ich weiß es nicht", stieß Bertin unter heftigem Herzklopfen hervor, Martog noch immer in seinen Händen haltend. "Aber Kreaturen wie diese sind nicht natürlichen Ursprungs, das steht fest."
"Elendes Alchemistenpack", maulte Dankrad Steinhag, ein weiterer Kämpfer aus Bertins Reihen. "Das ist ihr Werk!"
"Ohne Zweifel", stimmte Bertin grimmig zu. "In all den Jahrhunderten, die unser Volk schon in Gorta Ruun weilt, haben Zauberei und dunkle Magie hier nie etwas zu suchen gehabt. Stets sind wir ehrliche Handwerker gewesen, Schmiede und Steinmetze. Wir haben Bergbau betrieben und Schätze gehortet, haben Waffen geschmiedet und Kriege geführt - aber niemals in all dieser Zeit haben wir dunklem Zauber gefrönt. Bis die Alchemisten kamen."
"Ansgar und sein elendes Pack." Runward spuckte aus. "Wie sollen wir sie jemals besiegen, wenn sie jetzt schon vermögen, Krieger aus dem Nichts zu erschaffen? Die nur aus Bosheit und dunklem Rauch bestehen?"
"Ich weiß es nicht, meine Brüder", gab Bertin offen zu. Ein kalter Schauer durchfuhr ihn dabei.
Seit etwas mehr als zwei Jahren leisteten sie den Alchemisten nun Widerstand, hatten ihnen unzählige Nadelstiche versetzt und sogar manch empfindliche Niederlage beigebracht. Doch in all dieser Zeit hatten sie es stets mit Gegnern aus Fleisch und Blut zu tun gehabt.
Das hatte sich nun offenbar geändert.
Ansgar und seine Brut zeigten ihr wahres Gesicht.
Der Kampf um Gorta Ruun war in eine neue Phase getreten.

Kampf der Könige - LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt