1. Kapitel

343 19 3
                                    

Wilhelmina saß über denselben Tisch gebeugt und las ein Buch. Es war Eine Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens. Frieda ging im Raum auf und ab und hielt sich den dicken Bauch einer Schwangeren. Anna Barbara summte ein Volkslied vor sich hin und malte ein Bild neben Wilhelmina. Margarethe sah verträumt aus dem Fenster und versuchte, aus den Schneebildern Tiere herauszusehen. Kunigunde lehnte hinter ihr und strickte an einem blassblauen Strumpf. Es war warm und gemütlich. Auf dem Boden lag jetzt ein langer, grauer Teppich und auf dem Tisch eine Tischdecke. Die gemütliche Szene wurde von langsamen Schritten gestört, die ziemlich zaghaft die Treppe hinaufkamen. Ein Junges betrat das Bild, etwa siebzehn. „Georg!“, rief Anna Barbara überrascht und ließ den Stift fallen. „Wie siehst du denn aus?“ Margarethe drehte sich mit leuchtenden Augen um. „Hat Susi denn endlich gekalbt?“, fragte sie begeistert. Georg ließ sich auf einen Stuhl gegenüber von Wilhelmina fallen, die jetzt erst von ihrem Buch aufblickte. Angewidert rümpfte sie die Nase. „Kannst du dich nicht mal waschen?“  Georgs Hosen waren blutverschmiert und schleimig. Frieda gab ihr einen Klaps auf den Kopf. „So sieht man nun mal aus nach ´ner Geburt.“ „Solltest du jetzt nicht eigentlich Angst haben?“, fragte Kunigunde spöttisch, woraufhin ihr Anna Barbara einen Klaps gab. „Solltest du nicht eigentlich bei deinem Mann sein?“, fragte Georg an Frieda gewandt. „Wilhelm ist noch bei den Kühen.“ Margarete lief zu Georg und schmiegte sich an sein vollkommen dreckiges Hosenbein. Wilhelmina schob die Vierjährige schnell von ihrem Bruder weg, um den schlimmsten Dreck auf Georgs Hosenbein zu lassen. Margaretha sah ihn immer noch aus leuchtenden Augen an. „Ist es denn jetzt da?“ „Natürlich.“ Plötzlich kamen wieder Schritte die Treppe hoch. Weit energischere Schritte. „Vater!“, zischte Anna Barbara. Sofort kam Bewegung in die Geschwister. Anna Barbara schob ihre Zeichnung zwischen die Seiten von Wilhelminas Buch, Wilhelmina klappte es zu und setzte sich darauf, Georg sprang auf und schob Frieda auf seinen Stuhl, Kunigunde setzte sich auf den Stuhl von Anna Barbara und Margarethe setzte sich auf Wilhelminas Schoß, die sofort, als die Tür aufging, begann, Margarethe Des Kaisers neue Kleider zu erzählen, Margarethes Lieblingsmärchen. Ein großer, blonder Mann betrat die Szene. „Georg? Hilf Johann im Stall! Mädchen? Was hockt ihr hier alle so unnütz herum?“ Anna Barbara wagte ein zaghaftes „Ich stehe?“ woraufhin sie ihr Vater böse anblitzte und sie ein paar Schritte zurücktrat. „Anna Barbara, hilf deiner Mutter beim Kochen, Frieda- was suchst du hier überhaupt?“ „Wilhelm hat gemeint, ich solle etwas zu meiner Familie kommen, damit ich nicht so allein sei.“, sagte Frieda zögernd. „Hast du nicht deine Mägde? Wir haben sowieso nicht genug Essen für uns alle, jetzt musst du uns auch nicht noch zur Last fallen!“ Frieda traten die Tränen in den Augen und sie lief aus dem Zimmer. Kunigunde strich ihr noch schnell über die Haare, bevor sie durch die Tür trat. „Kunigunde, hilf deiner Großmutter beim Weben, diese unnütze Strickerei bringt uns sicher nicht durch den Winter, Wilhelmina… du…“ „Ja Vater?“, fragte Wilhelmina spöttisch. Sie war die einzige der Kinder, die keine besondere Begabung in irgendeinem hilfreichen Bereich des Bauernhofes hatte. Doch für ihre Dreistigkeit bekam sie augenblicklich eine schallende Ohrfeige. „Wag es noch einmal, in diesem Ton mit deinem Vater zu sprechen!“, brüllte dieser. Wilhelmina zuckte zurück. „Margarethe, du gehst mit Hermann spielen.“ Alle Kinder verließen das Zimmer. Nur Wilhelmina blieb zurück. Ihr war keine Aufgabe zugewiesen worden. Ihr Vater musterte sie wütend. „Du bleibst hier, bis du gerufen wirst!“ Das war beinahe die schlimmste Strafe, doch Wilhelmina kam immer gut mit ihr zurecht, vor allem, wenn sie ein Buch hatte. „Ja Vater.“, sagte sie brav und wartete, bis er das Zimmer verlassen hatte. Dann schlug sie ihr Buch wieder auf. Die Zeichnung von Anna Barbara schwebte heraus und segelte langsam auf den Boden. Wilhelmina hob sie auf und betrachtete sie. Es waren alle Geschwister auf den Bild versammelt, die man überraschend gut auseinanderhalten konnte. Doch etwas unterschied sich von der Wirklichkeit. Allen waren Flügel aus dem Rücken gewachsen und sie schwebten über dem elterlichen Bauernhof dahin, hin zu einem hell schimmernden Fleck. Wilhelmina musste lächeln. Anna Barbara hatte schon immer eine blühende Fantasie. Sie musterte das Papier noch einmal. Jetzt entdeckte sie ein, mit verschnörkelten Buchstaben geschriebenes Wort. Freiheit.

Das Abendessen verlief schweigsam. Adam schlang das Essen in sich hinein, als würde er in zehn Jahren nichts mehr zu essen bekommen. Der Schnee klatschte gegen die undichten Glasscheiben und durch einen Riss lief ein feines Wasserrinnsal in eine kleine, grob geschnitzte Holzschüssel. Georg hatte immer noch etwas Blut an der Hose, doch Barbara, die Mutter der Geschwister, hatte es bereits größtenteils abgewischt, bevor sie das Tischgebet gesprochen hatten. Johann stank nach Kuhmist und hatte Stroh im Haar, das Kunigunde ihm heimlich auszupfte um ihren Vater nicht noch mehr zu reizen. Anna Barbara räumte am Ende des Essens zusammen mit Wilhelmina den Tisch ab. Margarethe tanzte ein bisschen im Zimmer umher, bis Adam sie so missbilligend ansah, dass sogar die Sechsjährige verstand, dass sie jetzt besser aufhören sollte. Plötzlich betrat Heinrich, der Knecht, das Zimmer und Barbara sah ihn wie gebannt an. Wilhelmina rutschte auf ihren Stuhl hin und her. Könnte ihre Mutter ihn nicht ein bisschen weniger auffällig hinterher sehen? Und Heinrich nicht ein bisschen weniger auffällig zurückzwinkern? Alle außer dem Bauern wussten von dem Verhältnis zwischen seiner Frau und seinem besten Berater. Wilhelmina hielt es nicht mehr aus. Gleich würde sie auch noch für ihren Vater Mitleid empfinden und das konnte sie sich gleich sparen. Sie bat ihn um Erlaubnis, den Tisch verlassen zu dürfen. Abwesend nickte er und beließ seine restliche Heinrichs Ausführungen über ihre derzeitige finanzielle Lage. Erleichtert schob Wilhelmina ihren Stuhl zurück und floh aus dem Zimmer. Bald würden alle in der Guten Stube zusammensitzen, Kunigunde würde weben, Anna Barbara und Margarethe würden zusammen an einer Puppe aus Lumpen für Margarethe nähen (so hatte Anna einen Vorwand, ihrer kleinen Schwester Nähen beizubringen) ihre Großmutter würde stricken und Kunigunde kritisieren, Johann, Georg, Heinrich und Adam würden an dem Tisch hocken und Zeitung lesen und Wilhelmina selbst,  ihre Mutter und Maria, die Magd würden putzen. Putzen. Schon beim Gedanken daran musste Wilhelmina schaudern. Wie gern würde sie sich zu den Männern an den Tisch setzen und über Politik fachsimpeln. Aber selbst das taten sie nicht. Während Wilhelmina rasch die Treppen hinaufstieg, um noch eine halbe Stunde weiterlesen zu können, wurde ihr trotz der Kälte im gesamten Haus heiß vor Wut. Sie haben die Möglichkeit, sich zu bilden, und tun es nicht!, dachte sie aufgebracht. Sie könnten in die Stadt gehen und studieren, könnten einen Beruf ausüben… Zumindest Georg könnte das. Johann wird den Hof erben, darauf freut er sich sogar. Sie musste ungläubig den Kopf schütteln. Sie hasste ihr Zuhause, hasste die Pflichten, die unweigerlich mit diesem Heim verbunden waren. Sie würde bald ihren Antrag kriegen, dreizehn war sie bereits. Sie würde annehmen, drei oder vier Kinder bekommen und schließlich so enden wie ihre Mutter. In einer Affäre mit dem Knecht, den besten Freund ihres Mannes. Das ganze Jahr auf dem Feld, mit der Arbeit auf dem Hof beschäftigt. Das gesamte Überleben abhängig von der Ernte. Wurde verheiratet sein mit einem Mann, der ihre Kinder schlug, gegen den sie sich nicht wehrte. Abrupt hielt Wilhelmina vor der nächsten Stufe inne. Nie, so schwor sie sich. Nie werde ich zulassen, dass meine Kinder geschlagen werden. Ihr Vater schlug sie öfter als ihre Geschwister. Oh ja, er hasste sie, hasste sie für ihren Wissensdurst, ihr Interesse an jedem noch so kleinen Wissenswerten.  Hass und Liebe. Wilhelmina lächelte boshaft. Beides selbst in so einem Bauernhaus von unermesslicher Bedeutung.

Definiere "Freiheit"Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt