Kapitel 11

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„Mehr Zeit kann ich aber nicht erübrigen. Ich muss den Leichnam wegschaffen. Hier zu verwesen, hat er wirklich nicht verdient", erklärte uns Salz, doch ich hörte nur halb zu. In Gedanken war ich immer noch dabei, ein Resümee aus dem Strandbesuch zu schließen. Ich hatte viel Schreckliches erfahren über das Leben der Möwen, über ihre Hungersnot und den grausamen Tod, den sie durch das Plastik fanden.

Zum ersten Mal, seit ich aus meinem Käfig geflüchtet war, musste ich mir eingestehen, dass es mich schlechter hätte treffen können. Das bedeutete lange noch nicht, dass ich gerne dorthin zurückkehren wollte, nein, das auf keinen Fall, aber womöglich war mein Leben in Gefangenschaft gar nicht so schlecht gewesen, wie ich immer angenommen hatte.

Anders als die Möwen hatte ich immer genug zu essen gehabt und im Gegensatz zu den Hühner hatte mir auch nicht der Tod gedroht. Alles, woran es mir gefehlt hatte, war Freiheit gewesen, doch gerade danach hatte ich mich mit jeder Faser meines Körpers gesehnt.

Dennoch konnte ich nicht verleugnen, dass mich die Menschen immer gut behandelt hatten, also den Umständen entsprechend. Sie gaben mir Futter, sodass ich nicht einmal die Erfahrung des Hungerns gemacht hatte, und sie hatten mir nie auch nur eine Feder gekrümmt.

Kurz dachte ich an die Nägel, die die Tauben vom Landen auf gewissen Fensterbrettern abhalten sollten. Dann drängte sich bereits das nächste Bild in meinen Geist. Das Aufblitzen der metallischen Axt, kurz bevor sie hinabsauste. Ein leuchtend roter Blutregen, der sich auf den grauen Stein ergoss.

Ich hatte diese Erinnerungen heftig zu verdrängen versucht, doch irgendwie fanden sie den Weg in meinen Kopf. Zuletzt dachte ich an den stinkenden Leichnam der Möwe, wobei es unnötig war, mir ein Bild ins Gedächtnis zu rufen. Die tote Möwe lag noch immer im Sand.

Ich konnte mich wirklich glücklich schätzen, keiner dieser Vögel zu sein, das verstand ich jetzt. Zuvor hatte ich mich mit ihnen verglichen, hatte mein eigenes Leid mit dem ihrigen gleichgestellt. Das war mehr als ungerechtfertigt gewesen. Meine Gefangenschaft war wirklich nicht schön gewesen, doch sie stand in keinem Verhältnis zu dem, was Tauben, Hühner und Möwen durch die Menschen ertragen mussten.

Ebenso musste ich endlich zugeben, dass auch das Leben, das mir Dämmerung vorschlug, gar nicht so schlecht klang. Auf diese Weise konnte ich frei sein und bei meinen Liebsten bleiben, während der einzige Nachteil, den es zu ertragen galt, die störende Anwesenheit der Menschen war.

Das, was ich am Strand erfahren hatte, schmälerte keineswegs meinen Hass auf diese furchtbaren Wesen, doch es zeigte mir auch, dass es weitaus schlimmere Schicksale als mein eigenes gab. Vollkommen in meinen Gedanken versunken, hätte ich fast nicht bemerkt, dass es Zeit wurde, sich von Salz zu verabschieden.

Überrascht warf ich einen Blick zum Himmel, da es mir vorkam, als wäre die Zeit rasend schnell vergangen. Tatsächlich stand die Sonne nun tiefer, noch näher an der endlosen Fläche des Meeres. Dennoch war ich überzeugt, dass vor dem Einbruch der Dunkelheit noch genug Zeit verblieb für eine weitere Station unserer Reise.

Danach lasse ich es gut sein… Diesen heimlichen Schwur schließend, wandte ich mich an meine Freunde: „An einen weiteren Ort können wir noch, bevor es dunkel wird. Gibt es noch etwas, das ich sehen sollte? Weitere Grausamkeiten der Menschen?“ Zwar war die Frage primär an Fels gerichtet gewesen, da er sich besonders gut in der Umgebung auskannte, doch zu meiner Überraschung war es Salz, der antwortete.

„Zeigt ihm doch die Hühner", schlug die alte Möwe vor. Ich musste mir ein leichtes Lachen verkneifen und wandte ein: „Ich war schon bei den Hühnern. Beim Alten Joe und seinen Hennen.“ Allerdings verflüchtigte sich meine Belustigung sofort, als es nun Salz war, der laut zu lachen begann.

Im Schatten der MenschheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt