Die letzten Stunden im Leben von Jeff Buckley

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Eine Kurzgeschichte von Stefan Millius

Ich fragte mich, wie er essen konnte. Jetzt. In diesem Moment. In dieser Situation. Dann fiel mir ein, dass sein Jetzt nicht mein Jetzt war. Seine Situation war eine andere als meine. Für mich war es ein bisschen wie Sterben. Für ihn war es ein bisschen wie Alltag.

Er spülte den letzten Bissen mit einem Schluck Ginger Ale runter. Ich hatte bisher nichts angeboten bekommen. „Kann eine Weile gehen, bis wir ihn finden. Wenn wir ihn finden.“ Mit einem dicken, kurzen Finger deutete er auf die Karte vor sich auf dem Tisch. „Der Wolf River ist genau so, wie er heisst. Du hörst ihn nicht kommen. Er ist plötzlich da. Ihr Freund ist nicht der erste. Wird nicht der letzte sein.“

Ich wusste nicht, ob der Mann eine Antwort wollte. Es war ja keine Frage gewesen. Aber die Bemerkung blieb im Raum stehen. Und ich wollte die Stille brechen.

„Könnte sein, dass er nicht tot ist. Dass er einfach verschwinden wollte.“

Der Polizist starrte mich schweigend über die Tischplatte hinweg an. Sein bislang teilnahmsloser Blick wurde mit einem Mal sanfter. Es war eine Art milder Tadel in seinen Augen, so wie man es bei einem Kind macht, das Unsinn spricht, dem man es aber nicht richtig übelnehmen kann.

„Alles könnte. Immer.“ Er begann, die Karte wieder zusammenzufalten und verhedderte sich heillos, bis er sie schliesslich einfach aufs Geratewohl auf handliche Grösse zusammenpresste. „Wir müssen die Sache noch einmal durchgehen, fürchte ich. Fürs Protokoll. Wir können darüber sprechen. Oder Sie schreiben es gleich auf. Wir machen die Dinge exakt hier unten. Auch wenn Ihr da oben das nicht glaubt.“

Ich sah zu Boden und schüttelte langsam den Kopf. Aber ich hatte keine Kraft für solche Dinge. Es war nicht die Zeit dafür. Stehenlassen wollte ich es dennoch nicht.

„Jeff hat diese Gegend geliebt. Er wollte hier sein.“

Der andere nickte. Das Sanfte war wieder aus seinem Blick verschwunden. An seine Stelle war ein spöttischer Zug getreten.

„Scheint ihm gelungen zu sein, ihrem Freund. Er ist bei uns geblieben. So richtig.“ Er schob mir einige Blätter und einen Kugelschreiber zu.

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Roadie zu sein ist so was Ähnliches wie Schulhausabwart. Du hast alle technischen Apparaturen im Griff, du schleppst Zeugs herum, schaust, dass alles seine Ordnung hat, alles am richtigen Platz ist, und wenn alles vorbei ist, räumst du wieder auf, und einen Tag später beginnt alles wieder von vorne. Es hört nie auf.

Nur, dass man den Abwart hasst und den Roadie respektiert. Das stelle ich mir jedenfalls gerne so vor. Kommt natürlich drauf an, mit wem du arbeitest. Es gibt die Musiker, die dich spüren lassen, dass du ihnen zwar dabei hilfst, ihre Kunst zu zelebrieren, aber mit dieser Kunst eigentlich verdammt wenig zu tun hast. Und dass es auch irgendein anderer erledigen könnte. Andere wiederum glauben fest daran, dass auch das, was wir tun, irgendwie Kunst ist. Sozusagen: An der Gitarre schrummen ist nicht mehr und nicht weniger Kunst, als die Kabelrolle richtig zu verstauen, an der die Gitarre später hängt. Keine Angst, ich selbst glaube diesen Unsinn nicht. Ich meine, wir sprechen davon, einige Dutzend Meter Kabel richtig auf eine Rolle zu drehen. Das könnte sogar mein behinderter Cousin, und der ist wirklich scheissbehindert, aber er hat halbwegs die Kontrolle über seine Arme, also würde er das mit der Kabelrolle schaffen, keine Frage. Und natürlich tue ich mehr als Kabel aufrollen, aber wenn ich alle meine Aufgaben schön aufliste, auf ein Blatt, das so weiss und leer ist wie dasjenige, das Sie mir gegeben haben, Officer, um das hier aufzuschreiben, dann wäre mein behinderter Cousin imstande, eine hübsche Anzahl dieser Aufgaben zu erledigen, und für den Rest könnte er seinen Bruder holen, der nicht behindert ist, sondern einfach ganz normal bescheuert.

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