Kapitel 1: Als Er Ihn traf

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Der Mond leuchtete hell über den Baumwipfeln und tauchte den Wald in kaltes, blasses Licht. Wie weiße Kristalle glitzerte der frisch, gefallene Schnee auf dem Boden. Es war eine kalte Nacht und ab und an verdunkelte eine einzelne Wolke den Mond. Zwischen den dicken Stämmen der hohen Fichten, Tannen und Kiefern schlängelte sich ein schmaler Pfad durch das Dickicht, den man dank des Schnees aber nur schwer sehen konnte. Ein kleine, zierliche Gestalt stapfte wagemutig durch den Winterwald. Sie versank beinahe bis zu den Knien im kalten Weiß und hatte einen braunen Mantel fest um die schmalen Schultern geschlungen. Doch gegen die bittere Kälte schien auch dieser nicht viel ausrichten zu können. Ein Windstoß fegte zwischen den Bäumen hindurch und wehte die Kapuze herunter. Rostrot schimmerte das Haar des jungen Mannes im Mondlicht. Es war wie eine Flamme in Mitten des Schnee und Eises der transsilvanischen Berge. Die Lippen des Jungen hatten bereits eine ungesund, bläuliche Farbe angenommen und die Hand, die das Messer unter dem Umhang fest umklammert hielt zitterte so fest, dass er es fast hätte fallen lassen. Tiefe Falten zogen sich über die Stirn und die blauen Augen trugen eine Ernsthaftigkeit in sich, die man einem jungen Mann in seinem Alter nicht zugemutet hätte. Ilja zählte genau 19 Jahre und 26 Tage. Kaum selbst dem Kindesalter entschlüpft, hatte er bereits die ganze Verantwortung für seine Mutter und die vier jüngeren Schwestern zu tragen. Eine Last die man einem so schmächtigen Burschen nicht zumuten mochte. Die Familie war sehr arm und musste sich zwei Zimmer mit einigen anderen Menschen teilen. Es war schwer Arbeit zu finden und schon oft sahen sich die Kinder zum Stehlen gezwungen. Dabei waren sie vor wenigen Wochen noch so glücklich gewesen. Da besaßen sie ein eigenes kleines Häuschen und sie durften sogar die Schule besuchen. Iljas Vater war ein anerkannter Mann der Gemeinde gewesen und geliebt von jedem. Seine Frau war wunderschön und fleißig. Ebenso seine Töchter. Sein einziger Sohn der ganze Stolz des Vaters, auf ihn setzte er all seine Hoffnung. Alles hätte für immer so bleiben können. Doch dann brach Dunkelheit über das Dorf herein. Zuerst verging die Ernte auf den Feldern und eine Seuche ließ das Vieh, eines nach dem anderen rasend schnell dahin siechen. Wilde Tiere suchten des nachts die Hühner- und Schweineställe heim und ließen nichts zurück als blutgetränkten Boden. Menschen verschwanden. Mädchen und Knaben wurden des nachts aus ihren Betten gestohlen. Die Laken waren zerfetzt und blutverschmiert. Da sagten die Bewohner unter sich, dass der Teufel selbst sie alle heimsuche und von dort an begegnete man sich auf der Straße reserviert und äußerst misstrauisch. Iljas Familie versuchte sich aus all dem herauszuhalten und die Mutter beschwörte ihn und seine Schwestern, immer schön artig die Fenster zu verriegeln. Doch auch sie blieben nicht verschont. Anna, die Mittlere verschwand nachts, spurlos aus ihrem Bett. Drei winzige Blutstropfen zierten ihr Kopfkissen. Alle waren sogleich in heller Aufregung und man suchte mit Fackeln und Laternen den nahe liegenden Wald ab. Ein Fischer schließlich fand ihren feinen Pantoffel, etwa eine Meile entfernt des Dorfes an einer Kreuzung. An einer Kreuzung die den Dorfbewohnern mehr als bekannt war und von ihnen gefürchtet wurde. Folgte man dem Weg immer weiter geradeaus so kam man die nächst gelegene Stadt und war nicht lange unterwegs. Doch folgte man dem linken Pfad so betrat man unweigerlich das Territorium des Grafen. Keiner der Bürger hatte ihn jemals gesehen und doch erzählte man sich Geschichten von einem Monster mit roten Augen, langen tödlichen Klauen und Reißzähnen, Teufelshörnern und einem unbändigen Hunger nach jungem Fleisch. Es bestand kein Zweifel, das Monstrum hatte die Kinder entführt. Iljas Vater war einer der acht mutigen Männer, die in einer kalten Herbstnacht aufbrachen, bewaffnet mit Mistkabel, Fackel, Messer, Schürhaken, um das Biest zu jagen. Niemand von ihnen wurde seither wieder gesehen. Die Familie schien in ein tiefes Loch zu fallen, denn ohne den Vater, der steht's für einen gedeckten Tisch gesorgt hatte, blieb dem Jungen nichts anderes übrig, als die Schule zu verlassen und sich um die Jüngeren zu kümmern. Und auchdie Untaten endeten nicht. Einige Wochen später war Iljas jüngste Schwester verschwunden. Doch was sollte er tun? Vermutlich war es töricht und dumm, und hätte der junge Mann gründlich nachgedacht, dann wäre er sicher nicht einfach so, nur bewaffnet mit einem Messer, des Nachts aufgebrochen, um seinen lieben Vater und die Schwestern zurück zu holen. Die Schuhspitze seines Stiefels verhakte sich in einer Wurzel, die er unter der weißen Decke nicht hatte erkennen können und er stolperte. Wie tausend Eisnadeln stach der Schnee in die Haut seiner nackten Handflächen und die Nässe drang fast augenblicklich durch seine dünne Bekleidung. Fluchend rappelte sich Ilja wieder auf und griff nach dem silbernen Messer das einige Meter vor ihm im Mondlicht blitzte. Um ihm herum war nichts als Wald und Schnee. Auch wenn er sich bemühte konnte er den Weg nicht mehr erkennen. Weder der Blick nach vorne noch der über die Schulter verriet ihm wo er war. Er hatte sich ohne Zweifel im großen Wald verirrt. Was sollte er jetzt tun? Es schien immer kälter zu werden. Mit Schrecken erkannte der Junge, dass seine Fingerspitzen ebenfalls blau geworden waren. „Zur Hölle mit diesem Graf", knurrte er und gerade kam ihm der Gedanke einfach laut um Hilfe zu rufen, als ein finsteres Knurren ihn stutzen ließ. Hastig wirbelte er herum und erkannte zwischen den Stämmen zweier großer Eichen, ein paar dunkele, wilde Augen dir ihn aus der Nacht heraus beobachteten. Ein Wolf. Und er war nicht allein. Iljas Herz setzte aus und er spürte wie die Angst schleichend langsam sein Rückgrat hinauf kroch. Immer mehr Augen tauchten in der Dunkelheit auf. Die Panik erfasste den Jungen und er tat das einzige, dass ihm in diesem Moment einfiel. Er floh. Der Schnee stob in alle Richtungen davon, als er um sein Leben rannte. Äste schlugen ihm ins Gesicht, während das Knurren hinter ihm immer lauter wurde. Eine der Bestien schnappte nach seinem Mantel und verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Die eisige Luft brannte in seiner Kehle und trieb ihm Tränen in die Augen. Sein Herz schlug so schnell, dass er befürchtete es würde ihm aus der Brust springen. Weil er so in Eile war und nicht auf den Weg vor sich achtete bemerkte er nicht, dass er gerade Wegs auf einen gewaltigen Torbogen zusteuerte. Die Metallenen Türen standen weit offen und so konnte Ilja ungehindert passieren. Endlich hatte er den Weg wieder gefunden und hastete den Berg hinauf. Der Wald lichtete sich allmählich und gab den Blick auf ein gewaltiges Schloss frei, dass vor hunderten von Jahren auf den steilen Felsen errichtet worden war. Hohe Turmzinnen ragten in den schwarzen Himmel und warfen bedrohliche Schatten auf Iljas Pfad. Doch die Gefahr die ihm noch immer im Nacken saß, war schlimmer. Und so steuerte er auf das Schlosstor zu und hämmerte mit aller Kraft, die er noch aufbringen konnte, dagegen. „Bitte lasst mich hinein. Ich flehe euch an!", schrie er. Ein Jaulen ließ ihn zusammenfahren. Die Wölfe hatten den Jungen erreicht und umzingelten ihn. Das war's, dachte Ilja bei sich und die Schuld die er gegenüber der Familie verspürte, war fast noch stärker als die Angst. Nun waren seine Mutter und die Schwester ganz allein und er hatte noch nicht einmal etwas gegen den Grafen unternehmen können. Er presste sich gegen das dunkle Holz und hielt das Messer, mit beiden Händen umklammert von sich. Wenn er in dieser Nacht sterben sollte, dann musste es doch nicht kampflos von statten gehen. Gerade als der Leitwolf zum Sprung ansetzten wollte, ertönte ein lautes Knarzen und Knirschen, wie das eines fallenden Baumes; mit einem Ruck gab die Tür hinter Ilja nach und er fiel rücklings auf kalten Marmor. Das Tor schloss sich ebenso schnell wie es sich geöffnet hatte und sperrte das zornige Knurren der Wölfe aus.

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