Prolog: In der Fremde

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Er hätte nicht herkommen dürfen.

Diese Erkenntnis verfolgte Saladir schon seit einiger Zeit. Was hatte ihn nur dazu getrieben, ausgerechnet hier – an der Grenze – aufzutauchen? War es die Tatsache, dass sein Vater, der König der Lythari, schwer krank und er, der zweite Prinz, auf der Suche nach einem Heilmittel war? Einem, das vielleicht gar nicht mehr existierte? Vielleicht.

Dennoch spürte der junge Lythari, dass er in Lebensgefahr war, wenn man ihn hier entdeckte. Er musste komplett wahnsinnig sein. Wahnsinnig vor Verzweiflung und Sorge. Dass er inzwischen der Letzte war, der von seiner Eskorte noch lebte, half da auch nicht weiter.

Zu Beginn waren sie fünfzehn Leute gewesen, doch alle seine Kameraden waren entweder der unbarmherzigen Natur oder den Wesen von Kerui zum Opfer gefallen. Saladir erinnerte sich sehr genau an die Wüste, die sie durchquert hatten, wo zwei seiner Männer von einem Sandsturm einfach spurlos verschluckt worden waren. Einige Tage später hatten sie sich durch einen Dschungel gekämpft, wo sie von fleischfressenden Pflanzen angegriffen worden waren. Es war reines Glück gewesen, dass sie dort nur jenen Lythari verloren hatten, der sich schützend über Saladir geworfen hatte, als die Pflanze mit ihren Wurzeln nach ihm griff. Die Erinnerung an die Schmerzensschreie des Mannes, der im Inneren einer riesigen gelben Orchideenblüte allmählich verdaut wurde, hallte immer noch in den Ohren des jungen Prinzen wider.

Dieser Umstand und die unerwarteten Gefahren der Suche entbehrten nicht einer gewissen Ironie, denn eigentlich hätte er gar nicht mitreisen sollen. Doch als zweiter Prinz hatte Saladir es als seine Aufgabe angesehen, die Truppe anzuführen, obwohl ihn sein älterer Bruder Athavar und zuvor schon der gesamte Ministerrat davon hatten abhalten wollen. Kurz bevor die Männer aufgebrochen waren und Saladir angekündigt hatte, sie zu begleiten, war es deswegen zwischen den beiden Brüder zu einem heftigen Streit gekommen.

„Du kannst nicht gehen! Dein Platz ist hier an Vaters Seite, während ich als Kronprinz die Amtsgeschäfte für ihn übernehme."
„Nein! Ich kann hier nicht herumsitzen und nichts tun!"
„Saladir..."

„Nein!"
„Deine Gesellschaft wird Vater Kraft geben, bis die Soldaten mit den Nachtrosen zurück sind..."

„Ich werde hier nicht tatenlos herumsitzen! Ich werde den Trupp anführen!"

Er schüttelte den Kopf, um die unangenehmen Gedanken zu verbannen. So geräuschlos wie möglich schlich der junge Elf weiter, nachdem er sich erneut umgeschaut hatte. Es war beinahe Mitternacht... eine Zeit die ihm, so glaubte er nun, nichts Gutes verheißen konnte. Der Wind frischte auf, und der Lythari blieb kurz stehen, um sich eine Strähne seiner hellblauen Haare aus dem Gesicht zu streichen, die inzwischen unangenehm lang geworden waren. Er durfte sich nicht ablenken lassen.

Saladir hatte fast acht Tage gebraucht, um die Stelle zu finden, an der er sich jetzt befand. Die Bergkette vor ihm zu erklimmen, war nicht das Problem gewesen. Das Problem ergab sich auf der anderen Seite, wo ein Abstieg nur in einer Lawine von Geröll endete, die ihn gnadenlos verschütten würde. Schon das versehentliche Lostreten kleinerer Kiesel einige Tage vorher hatte zu einem einschüchternden Resultat geführt, das der junge Elf nicht wiederholen wollte. Also hatte er gesucht, um eine Lösung zu finden, die ihn nicht das Leben kosten würde. Eine weniger steile, flacher abfallende Stelle, ein mit Bäumen bewachsener Abhang... irgendetwas, durch das er lebend auf der anderen Seite ankam, selbst wenn er abstürzen sollte. Saladir war nicht wählerisch und schließlich hatte Glück er gehabt: Vor ihm lag nun – hinter einer schmalen Felsspalte verborgen – ein Durchgang in das von Bergen regelrecht umschlossene Reich der Naralfir.

Die Naralfir waren Dämonen, die in ganz Kerui für ihre Grausamkeit und Blutrünstigkeit gefürchtet waren. Sie waren der Inbegriff für alles Böse und schreckten vor nichts zurück, um dies jedem zu beweisen, der ihr Missfallen erregte. Die Geschichtsbücher erzählten, dass ihr Reich entstanden war, als nach einem gewaltigen Erdbeben ein Vulkan explodiert war und das umliegende Land mit seiner Lava völlig bedeckt hatte. Unzählige Tausend waren bei dieser Katastrophe umgekommen – und seitdem galt das Land als verflucht. Die Naralfir hielten sich andere Rassen als Sklaven oder Nahrung, hieß es weiter, und ihre Magie war so dunkel, dass selbst die Gesetze der Natur von ihr aus den Angeln gehoben wurden. Außerdem war es bei ihnen Brauch, denjenigen zum König zu machen, der den herrschenden König umbrachte.

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