Die Luft Brennt

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Wincents Sicht

Meine rechte Schläfe pocht und ich spüre, wie mit jedem Pochen der Schweiß immer weiter in Richtung meines Nackens fließt. Mein Herzschlag beschleunigt sich, mein Atem ist schnell und flach. Und dennoch habe ich das Gefühl als würde mein Körper von jeder Menge Sauerstoff durchströmt.

Ich habe das Gefühl als könnte ich besser atmen denn je. Als könnte ich heute Abend alles anstellen, was mir in den Sinn kommt. Dabei ist die Luft in der Halle richtig stickig. Stickig und aufgeladen. Die Luft ist voll von Euphorie. Energie. Passion. Faszination.

Ich bilde mir ein, in den Augen meiner Fans würde ein Feuer lodern. Vielleicht ist es eigentlich nur ein kleines Flämmchen. Aber die Menschen vor mir haben so viel Spaß, dass die Luft brennt. Und das liegt nicht an meiner Lichtershow. Manche weinen sogar vor Freude – zumindest hoffe ich, dass ihre Freude der Grund ist.

Meine Augen schließend drehe ich mich um meine eigene Achse, während ich den Stimmen meiner Fans lausche. "Hier mit dir, das ist die beste Zeit der Welt", singen – nein rufen – sie so laut sie können. Und ich - ich fühl mich als wäre ich in einem Rausch. Als könnte ich nie wieder glücklicher sein.

Meine Beine machen sich selbstständig und bringen mich an den Rand der Bühne. Zwei große Sprünge später stehe ich auf dem Hallenboden. Direkt vor meinen kreischenden Fans. Die Absperrung hindert sie daran, näher an mich heranzukommen. Und in einer gewissen Weise bin ich froh darum.

Bevor ich mich freiwillig in die Menschenmasse begebe, brauche ich einen Augenblick Zeit, um die Lage abzuchecken. Während meiner Konzerte bin ich ständig in Bewegung. Ich wechsle so oft den Platz, dass ich manchmal einfach einen kurzen Moment brauche, damit ich mich neu orientieren kann.

Meine Augen schweifen nach rechts und fangen einige Mädchen ein, die sich in den Armen liegen und jedes Wort, das sie singen, wirklich spüren. Vereinzelte Taschenlampen blenden mich. Handys, die von meinen Handyhüllen geschützt sind, verwehren mir die Sicht auf weitere Fans. Fans, die sicherlich breit lächeln und sich wünschen, noch einige Stunden länger hier stehen zu können.

Mein Blick wandert langsam weiter, während ich mir selbst beim Singen zuhöre. So als wüsste ich gar nicht, dass das mein Mund ist, der sich bewegt. Arme, die in die Luft gestreckt werden und sich im Takt der Musik bewegen, tauchen weiter hinten in der Menge auf. Gleichzeitig werden direkt vor mir Arme in meine Richtung gestreckt – Hände, die nach mir fassen – Finger, die mich berühren wollen. Unbewusst mache ich einen Schritt zur Seite, wende meinen Kopf nach links und lasse meinen Blick über die andere Hälfte der Menschenmenge gleiten.

Mein Plan ist es, mich umzudrehen und wieder auf die Bühne zu klettern, als ich eine Silhouette im Augenwinkel wahrnehme. Es ist merkwürdig und ich kann nicht einmal erklären, wieso es so ist, aber ich halte in meiner Bewegung inne.

Vorsichtig – so als könnte das Mädchen verschwinden, wenn ich mich zu ruckartig bewege – sehe ich zu ihr. Vollkommen ruhig steht sie da. Ihre Unterarme sind auf der Absperrung aufgestützt. Ihr Kopf ist leicht zur Seite geneigt. Dadurch fallen ihre Haare alle in eine Richtung. Dunkelbraune Korkenzieherlocken, die dem ein oder anderen Fan hinter ihr sicherlich die Sicht auf mich nehmen.

Ihre Wangen sind gerötet. Möglicherweise von der Hitze in der Halle. Vielleicht ist sie auch aufgeregt. Oder mein Starren ist ihr unangenehm. Denn ihre Körpersprache zeugt kein bisschen von Aufregung.

Ihre Lippen bewegen sich nicht. Dabei habe ich vor wenigen Sekunden das nächste Lied angestimmt. Wie ich das fertiggebracht habe, ist mir ein Rätsel. Es scheint als wäre ich eine Maschine, die einfach funktioniert - weil sie funktionieren muss.

Meine Stirn runzelnd versuche ich in Erfahrung zu bringen, weshalb das Mädchen nicht mitsingt. Kann sie den Text nicht? Ich will auf sie zugehen. Ich will wissen, ob alles in Ordnung ist. Ich spiele sogar mit den Gedanken, ihr das Mikrofon entgegenzustrecken. Nur um zu testen, ob sie das Lied kennt.

Ich möchte näher an sie heran. Ich möchte die Gelegenheit habe, mir jedes Detail ihres Gesicht zu merken. Ich will sie nach ihrem Namen fragen. Doch all das kann ich einfach nicht bringen. Eigentlich müsste ich schon längst auf der Absperrung stehen und ankündigen, dass ich mich nun in die Menschenmenge begebe - dass mich bloß keiner fallen lassen soll. Aber ich habe Angst, dass das Mädchen weggedrängt wird und ich es nicht mehr wiedersehe, wenn ich zurück auf die Bühne komme.

In meinem Kopf herrscht Krieg. Es ist nicht mehr nur die Luft, die brennt. Das ursprüngliche Kribbeln in meinen Fingerspitzen fühlt sich eher wie ein Knistern an und das Blut, das durch meine Adern gepumpt wird, verbreitet eine unglaubliche Wärme. Mein ganzer Körper scheint zu brennen.

Unruhig wippe ich auf meinen Fußballen auf und ab. Es bleiben nur noch wenige Minuten - dann muss ich wieder oben auf der Bühne stehen und meine Gitarre entgegennehmen. Langsam lasse ich das Mikrofon sinken, sodass nur noch meine Fans singen. Jetzt wäre Zeit, um auf mich aufmerksam zu machen. Vielleicht kann ich meinem Team auch ein Zeichen geben, dass sie dieses Mädchen zum Meet and Greet einladen sollen.

Die Gedanken in meinem Kopf springen hin und her. Hin und her. Hin und - urplötzlich regt sich das Mädchen. Es ist nicht viel. Alles, was passiert, ist, dass sich ihre Lippen zu einem breiten Lächeln formen. Es ist nicht viel. Aber in diesem Moment fühlt es sich so unheimlich bedeutend an.

Und zum ersten Mal kann ich mir vorstellen, wie es für meine Fans sein muss, wenn ich sie einfach nur anlächle. Mein Herz schlägt bis zum Hals. Tief durchatmend mache ich mich dazu bereit zurück auf die Bühne zu gehen. Als hätte sie auf den aller letzten Moment gewartet, öffnet sie ihren Mund, kurz bevor ich mich wegdrehe. Es sieht aus als würde sie ein "Hi" formen.

Ein einfaches "Hi", das mich mehr als dämlich grinsen lässt.

Oneshots WINCENT WEISSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt