Olivia, die geheimnisvolle Bäckereifachverkäuferin
Nur wer auf einem Berg wohnt, der kennt das. Wenn einem alles zu viel wird, wenn man überhaupt nicht mehr weiss, was man tun soll, dann lässt man sich von der Schwerkraft ins Tal rollen. Das macht auch Zacharias heute so. Auch wenn er viel zu dünn angezogen ist. Das ist noch so ein Ding, wenn man auf dem Berg wohnt und die Schule im Tal geht. Man muss immer eine dicke Jacke für die Hinfahrt mitschleppen, wenn man dann Mittags, wenn es warm ist, zurück fährt, braucht man überhaupt keine Jacke mehr, besonders, wenn es wieder bergauf geht. Eigenartig ist, man glaubt jedes Mal, wenn man das tut, dass man an einen ganz neuen Ort kommt, dass es so ist, als würde man einen Stein von der alten Frankenburg, ungefähr 100 Höhenmeter über Zacharis Haus, ins Tal werfen, wo man auch nie ganz sicher sein kann, wo der Stein landet. Manchmal bleiben die Steine einfach mitten auf dem Steilhang liegen, und dann nehmen andere, die gar nicht so eine ideale Form haben, plötzlich richtig Fahrt auf, springen über den umgefallenden Baumstamm und überwinden die kleine Mulde bevor es erneut steil bergab geht. Doch wenn Zacharias das Gleiche mit dem Fahrrad ausprobiert, dann landet er doch jedes mal bei den gleiche 3 Orten im Tal, mit denen er etwas verbindet. Das ärgert ihn. Da hat man die ganze Intelligenz der Evolution, aber wenn es um den Zufall geht, dann ist man selbst einem beschissenen Stein, der ins Tal rollt, total unterlegen.
Doch diesmal will er es anders machen, diesmal will er sich den Stein als Vorbild nehmen, und auch wenn er hier oben an der Ecke auf dem Kirchplatz schon die Bäckerei riechen kann, so wie damals, als er das erste Mal in die Stadt gefahren ist, nur um sich etwas vom Bäcker zu holen, diesmal will er eine andere Richtung einschlagen, aber statt einfach weiter zu fahren, bleibt er stehen, sieht zum Himmel und wie auf Kommando öffnet sich die Wolkendecke und die Sonne kommt raus um ihn zu wärmen. Er sieht das als Zeichen, nicht in die warme Backstube gehen zu müssen, um sich nach der rasanten Talfahrt aufzuwärmen. Aber was tut er da? Setzt sich auf die Bank, setzt sich ein wenig schräg hin, damit ihm die Sonne direkt ins Gesicht scheinen kann. Ein alter Trick, wenn man die Augen schliessen will, mitten in der Stadt, um sich seinen Tagträumen hinzugeben. Er sollte jetzt dem wilden Willen des Steins folgen, und das probiert er auch mit geschlossenen Augen, er versucht rauszufinden, wo er sich von dem Gefälle hintragen lassen könnte, wenn er nur ein Stein wäre. Aber alles, was ihm dazu einfällt ist dieses eine Mal, als er zum Bäcker gegangen ist, an das er schon öfter gedacht hat.
Damals hat er versucht sich damit rauszureden, dass es nach Hefekuchen mit Pflaumen und Streuseln gerochen hat, er versuchte sich damit herauszureden, dass es mit der warmen Backstube zu tun hat, wo er sich aufwärmen kann. Und auch mit dem Geld, was er in seiner Hosentasche klimpern hört. Sein Vater hat es ihm zugesteckt. Das hat vor ein paar Monaten angefangen. Überall findet Zacharias Geld in den Hosentaschen, sogar in seiner Turnhose.
Während Zacharias noch in Gedanken bei dem Taschengeld in seiner Turnhose ist und welchen Nutzen das haben soll, betritt er die Backstube. Erst jetzt erinnert er sich daran, wie das abläuft, wie Olivia, diese verwirrende Bäckerreifachverkäuferin aus Österreich auf ihn wirkt. Als hätte er einen Heizstab verschluckt, knallrot läuft er an, wenn er nur daran denkt. Dann kühlt er sich selbst vorher runter, achtet darauf, dass er nicht überhitzt vom Fahrrad in die warme Backstube von Olivia steigt. Aber dieser kleine Schreck, der ihn überkommt, der scheint schon auszureichen. Obwohl er seinen Puls nicht weiter hochtreibt, als es ein winziger Hügel kann, mehr ein Haufen vielleicht, steht er wieder da und hat eine Bombe.
Olivia blickt etwas missmutig von ihrer Lektüre auf, weil sie wahrscheinlich einen alten Schlawiner erwartet, der sie mit Donauwellen nervt und immer etwas mit Zuckerguss kauft, diese Sau. Und dann glaubt er noch, sie merkt es nicht. Zacharias, besonders in seiner Erscheinungsform als wandelnde Erdbeere ist da ganz anders. Er ist hoch willkommen. Natürlich hat Olivia schon mal drüber nachgedacht, ob auch Zacharias mal so ein Zuckerguss Typ wird, aber da macht sich Olivia keine Sorgen, Zacharias wird es schon schaffen mit ein bisschen Hilfe.
DU LIEST GERADE
Mein Freund das schwarze Loch
General FictionEin Kraftfeld um die Prügel nicht zu spüren.