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Ihre Stimme bricht. Doch ihre Entscheidung ist gefallen. Alles oder nichts. Sie gibt sich keine Mühe die Tränen zu verdecken. Vereinzelt laufen sie ihre Wange hinunter, tropfen dann auf den Stoff der Decke und hinterlassen einen dunklen Fleck, der Sekunden später wieder verblasst. Namjoon findet das tapferer als die Emotionen zu unterdrücken. „Ich weiß nicht ob ich dich damit belasten sollte. Ihr habt so viel um die Ohren. Da braucht ihr dieses Drama nicht, das schon so lange her ist." Amy schnieft. Sie dreht sich zum Kopfkissen. Ein Arm fährt darunter und zieht eine Packung Taschentücher hervor. Mit zittrigen Finger öffnet sie die Packung, bevor sie einen Streifen herauszieht um ihr Gesicht damit abzutupfen.
„Darf ich deine Hand nehmen?" Die Worte sind schneller gesagt, als überlegt. Doch Namjoon kann sich nicht mehr zurückhalten. Ihm geht das so nah. Als würde ihm ein alter Freund ein Geheimnis offenbaren, von dem er nichts geahnt hat. Amy nickt. Langsam löst sie ihre verkrampften Finger voneinander. Langsam greift der Rapper einzeln nach beiden Händen. Sie sind kalt. Sanft fängt er an sie zu streicheln, um sie zu wärmen. „Army und BTS sind eine Familie. Sie unterstützen sich, geben sich Rückhalt und erzählen von ihren Problemen. Du gehörst zu meiner Familie. Du kannst mir alles erzählen, egal was. Ich werde dir helfen." Amy hält den Kopf gesenkt. Ihre Augen sind zusammengekniffen, als sie anfängt zu schluchzen. Ihre Hände ruhen immer noch in seinen. Sie gibt sich keine Mühe ihre Gefühle zu verstecken. Namjoons Inneres tut weh. Wie viele Armys sind wohl gute Menschen, die BTS lieben ohne ihnen nachzustellen? Wie viele dieser vernünftigen Armys leiden wohl, genauso wie die junge Frau vor ihm? Betroffen betrachtet er sie. Wie viele junge Mädchen weinen sich wohl in den Schlaf, nach einem schrecklichen Tag auf Arbeit oder in der Schule? Wie viele Jungs werden wohl verprügelt, weil sie besonders und sie selbst sind? Dann setzen sie die Kopfhörer auf und hören seine Musik und vergessen, überwinden. Sie heilen. Er konnte es nie richtig glauben. Er hat immer gedacht, dass die Kommentare übertrieben sind. Wie viel Macht konnten er und sechs Jungen aus Korea, einem gespaltenen Land, schon haben?
Dabei ist alles was ich kann Musik machen, denkt er. Gedankenverloren zeichnet er Kreise über die fremden Handrücken. Mit dem Daumen streift er auch über das Handgelenk. Er bildet sich ein, dass der Herzschlag darunter langsam zur Ruhe kommt.
„Vor vier Jahren...", erhebt Amy plötzlich die Stimme. „wurde ich vergewaltigt."

Namjoons Griff wird schlagartig fester. So stark durchfluten ihn die Emotionen. Vor allem Wut und Trauer machen sich in ihm breit. Kurz schließt er die Augen, senkt ebenfalls den Kopf, um sich unter Kontrolle zu haben, aber auch um die eigenen Tränen zu bekämpfen. Auch wenn Taehyung nicht viel Schuld trifft: Was hat er nur angerichtet?
„Es war auf meiner Abschlussfeier. Gefühlt die ganze Schule war da. Ich wurde betäubt. Am nächsten Tag bin ich aufgewacht. In einem Hotel. Neben einem Kerl. Mir wurden sofort die Augen verbunden. Ich stand noch unter Drogen. Ich habe vergessen wie er aussah. Ich habe nie herausgefunden wer es war." Die abgehakte Erzählung verstummt. Seit einer Ewigkeit sieht sie wieder auf. Namjoon bemerkt den Blick. Er hebt den Kopf ebenfalls. Ihre Tränen sind versiegt. Nur ihre roten Augen sind noch Zeuge davon, dass sie einmal da waren. „Was dann?", haucht der Rapper. Diese Geschichte hat kein gutes Ende. Er will es dennoch hören. „Ich habe jedem misstraut. Ich dachte, dass jeder etwas wüsste und es mir verschweigt. Ich hatte das Gefühl zu ersticken. Selbst meinen Therapeuten habe ich ein Mitwissen unterstellt. Irgendwann habe ich alles hinter mir gelassen. Meine Freunde, meine Familie. Alles. In Großbritannien habe ich vorerst keine Therapie gemacht. Es war ein neuer Ort. Ich habe mich wohl gefühlt. Frei. Ich dachte ich wäre stark und habe alles überwunden." Fest presst sie die Lippen zusammen, bis jegliche Farbe aus ihnen gewichen ist. Nun löst sie doch eine Hand aus Namjoons Griff und fährt sich damit durch die Haare. Er bemerkt ihren angespannten Kiefer. Als sie die Hand wieder in seine schiebt zittert sie etwas. „Dann bin ich von der London Bridge gesprungen." Amy will ihm ihre Hände entziehen, doch er hält sie fest, macht deutlich, dass er sie nicht verurteilt. Niemals. Er stand selbst schon auf einer Brücke, mit dem Wasser unter ihm. Der Unterschied war, dass Yoongi neben ihm stand und sie ihre Gedanken und Gefühlen geteilt haben.
„Ich habe mich verfolgt gefühlt. Ich dachte, dass auf meiner Stirn steht was mir passiert ist und, dass man das nun mit mir machen kann. Gleichzeitig war ich so unglaublich einsam. Ich wollte keinem mehr vertrauen. Es erschien mir zu schwierig Beziehungen aufzubauen und zu halten, wenn so etwas dazwischen steht. Da war auch die Angst vor der Reaktion, falls ich das irgendjemandem erzählen würde." Amy beginnt auch ihren Daumen auf seiner Haut zu bewegen. Es kommt so überraschend, dass sich eine Gänsehaut auf Namjoons Armen bildet. Er rührt sich nicht. Keinesfalls will er seinen Gegenüber unterbrechen. „Sie haben mich rausgezogen, in ein Wohnheim gesteckt und therapiert. Meine Mitbewohnerin hat mich auf euch aufmerksam gemacht. Ihr habt ihre Depression mit geheilt. So habe ich es dann auch geschafft."
Namjoons Mund steht ein Stück weit offen. Zwar erzählt Amy die Geschichte mit einer gewissen Distanz, doch es ist ganz klar ihre. „Das heute war wie ein Rückfall. Das ist normal. Also kein Grund zur Sorge. Das kriege ich schon wieder hin." Ihre Stimme bebt zu sehr, als dass der Scherz lustig sein könnte. „Bist du noch in Therapie?", fragt der Rapper. Betreten nickt Amy. „Ja, sie ist meine Begleiterin im Alltag und wir halten unsere Deutschkenntnisse gemeinsam frisch." Erleichtert seufzt er auf. „Versprichst du mir, dass du sie heute noch anrufst, ihr erzählst was passiert ist und sobald du wieder zuhause bist zu ihr gehst? Bitte?" Überrascht hebt Amy den Blick. Sie hätte nie gedacht, dass er die Sache so ernst nimmt. Doch der Ausdruck in seinen dunklen Augen gibt ihr genau das, was sie sich von einer Person nach ihrer Erzählung gewünscht hat. Kein Mitleid. Keinen Zorn. Unterstützung. Ein gesundes Maß an Sorge und keine Fragen mehr zu den Ereignissen. „Versprich es.", fleht er fast. „Ich verspreche, dass ich meine Therapeutin heute noch anrufen werde.", nickt Amy.
„Sobald ich aus dem Zimmer bin.", ergänzt er. Sie wirft einen schrägen Blick auf seine Armbanduhr. „Die Zeitverschiebung...", will sie widersprechen. „Tu es einfach. Sie wird ein offenes Ohr für dich haben. Da bin ich mir sicher." Ergeben nickt sie. „Ja, werde ich.", gibt sie auf koreanisch zurück. Seine angespannte Schultermuskulatur lockert sich etwas. Verblüfft sieht er Amy an. „Das war echt gut." Verlegen fährt Namjoon sich über die Hinterkopf. „Darf ich dich vielleicht umarmen?" Mit aufgerissenen Augen sieht Amy ihn an. Dann färben sich ihre Wangen rosa. Der Schatten eines Gefühls keimt in ihr auf, das sie schon lange nicht mehr empfunden hat. „Ja."
Namjoon löst nun auf die andere Hand von ihrer. Er breitet die Arme aus. Vorsichtig und langsam legt er sie um sie und zieht sie an sich. Sie wehrt sich nicht als er die Decke von ihren Schultern schiebt. Mit seinen langen Armen ist es eine Leichtigkeit sie zu umschlingen. Während er vorsichtig ist um sich nicht zu bedrängen, schmiegt sich Amy an seine Brust. Die Emotion verfestigt sich langsam. Sie hat die Arme um seine Hüfte gelegt. Sein Herz schlägt gegen ihr Ohr. Schneller als erwartet.

Not today (BTS Fanfiction/ Vxgirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt