Jedes Mal, wenn Carolin ein Rascheln im Gebüsch hörte, fing ihr Herz wie wild an zu klopfen. Sie versuchte sich zu beruhigen, dachte daran, dass sie sich den Mann, der sie angestarrt hatte, nur eingebildet hatte. Aber trotzdem schlug ihr Herz nicht langsamer. Irgendetwas sagte ihr, dass hier draußen eine Gefahr auf sie lauerte.
Hinter ihr knackte ein Ast. Max knurrte. Wie aus Reflex schloss Carolin ihre Hand fester um die Leine und beschleunigte ihren Schritt. Sie musste weg von hier.
Schnellen Schrittes bewegte sie sich vorwärts. Das Rascheln im Hintergrund wurde leiser, schien sich zu entfernen. Bald hörte sie nur noch ihre eigenen Schritte und das Getrappel der Pfoten ihres Hundes. Immer näher kam sie den Straßenlaternen in der Ferne. Vielleicht war es noch ein halber Kilometer bis zu ihrem Ziel. Langsam beruhigte sie sich ein wenig. Das Rascheln im Gebüsch war nun verschwunden.
Carolin atmete auf. "Es ist okay, Max, wir sind in Sicherheit", sagte sie zu ihrem Hund und führte ihn zu einer Bank, auf die sie sich setzte. Die Bank war nass vom Regen, aber es war ihr egal. Sie wollte einfach nur wieder zur Ruhe kommen. Ein Fehler.
Hätte sie nach hinten geblickt, hätte gesehen, wie in der Ferne ein Schatten vorbei glitt. Wendig und leise wie eine Schlange auf der Jagd.
Nach einer Weile hatte Carolin sich genug ausgeruht. Der Regen hatte bereits ihre Haare durchnässt und auch das Fell von Max war strähnig und tropfte. "Ich glaube, es ist Zeit, dass wir weitergehen, Max", sagte Carolin zu ihrem Hund. "Sonst holen wir uns hier draußen den Tod." Sie schüttelte sich die Regentropfen von der Jacke und machte sich dann wieder auf den Weg.
Schon nach einigen Metern spürte Carolin, dass etwas nicht in Ordnung war. Gerade noch hatte sie sich sicher gefühlt, aber jetzt bekam sie erneut eine Gänsehaut. Eine unglaubliche Schwere und Kälte lag in der Luft. So, als wäre die Gefahr, vor der sie gerade entkommen war, wieder da. Aber das konnte nicht sein. Sie war schon so weit gelaufen. Mit Sicherheit lag es nur am Wetter, dass sie sich so fühlte.
Sie schaute hinunter zu Max, um sich davon zu überzeugen, dass sie sich alles nur einbildete. Normalerweise, wenn alles in Ordnung war, lief ihr Hund immer mit wedelndem Schwanz und hechelnd vor ihr her. Aber nicht diesmal. Diesmal hatte Max die Ohren angelegt und sein Schwanz lag direkt an seinen Hinterbeinen. Angespannt blickte er nach vorne, in die Richtung, in der das Dorf lag.
Dem Mädchen wurde eiskalt, als sie realisierte, was das bedeutete. Sie bildete es sich nicht ein. Ihr Hund spürte es auch. Irgendetwas war hier draußen. Jemand hatte sie tatsächlich angestarrt. Und, wer immer es war, er folgte ihr. Hatte sie eingeholt, nein, sogar überholt, und war mittlerweile wahrscheinlich näher am Dorf als sie selbst.
"Was sollen wir tun, Max?", fragte sie mit ängstlicher Stimme. Ihr Herz schlug nun schneller. "Sollen wir umdrehen?". Ihr Hund antwortete nicht. Natürlich nicht. In diesem Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass er ihr Mut zusprechen könnte. Aber Max konnte ihr nicht gut zusprechen. Er war nur ein Hund. Und er hatte selbst Angst. Das sah Carolin. Und es beunruhigte sie nur noch mehr.
Hektisch überlegte Carolin, was sie tun sollte. Sollte sie weitergehen? Wenn sie das täte, würde sie dem, der dort draußen auf sie lauerte, geradewegs in die Arme laufen. Aber auch zurückgehen konnte sie nicht. Der Weg durch den Wald war von hier aus noch zweieinhalb Kilometer lang. Viel mehr Möglichkeiten, abgefangen und erwischt zu werden. Besonders, wenn sie Pause machen musste. Was, wenn sie sich verirrte? Immerhin konnte sie in dieser Dunkelheit kaum etwas erkennen. Einzig und allein das Halsband von Max und das entfernte Licht der Straßenlaternen halfen ihr, sich zu orientieren. Ein Handy, um den Notruf zu rufen, hatte sie nicht dabei.
Schließlich entschied sie sich, weiter geradeaus zu gehen. Der Weg war kürzer, das Dorf war näher. Wenn etwas passierte, konnte sie um Hilfe rufen. Vielleicht würden Spaziergänger sie hören. Dann würde sie gerettet werden.
Sie ging voran. Je weiter sie lief, desto mehr zitterte sie. Ihr war speiübel. Sie wusste, dass sie die falsche Möglichkeit gewählt hatte. Wer immer auf sie lauerte, er war ganz nah. Aber sie hätte auch den anderen Weg nicht nehmen können. Es gab keine richtige Möglichkeit. Es gab nur zwei Wege. Den weiten Weg durch den Wald oder den kurzen Weg direkt in die Arme des Bösen.
Oder?
Eine dritte Möglichkeit gab es noch. Ein Funken Hoffnung entfachte in Carolins Herzen. Sie hatte fast vergessen, dass sie den Weg gar nicht nehmen musste! Sie konnte auch nach links abbiegen und durch den Wald hinunter zur Landstraße rennen. Es ging ein wenig bergab und war vermutlich rutschig, aber die Straße war nicht weit. Dort war sie sicher. Sicher und in der Nähe von Menschen.
Ohne lange zu zögern, schloss sie ihre Hände fest um die Hundeleine, drehte sich und ging geradewegs hinein in das Waldstück.
Zum Glück stolperte Max voran, leuchtete mit seinem Halsband den Weg. So konnte sie die herumliegenden Äste und Wurzeln sehen, an denen sie hätte hängen bleiben können. Es roch nach nassen Blättern und vermodertem Holz, aber darauf achtete Carolin nicht. Sie achtete nur darauf, so schnell wie möglich vorwärts zu kommen.
Da vorne sah sie schon die Straße. Nur noch hundert, hundertfünfzig Meter, dann würde sie da sein.
Womit sie nicht gerechnet hatte, war der steile Abhang.
Gerade rechtzeitig blieben Carolin und Max stehen. "Nein!", rief sie leise, als sie hinab in den Abgrund blickte. Sie stand am oberen Ende einer fünf Meter hohen Felswand. Unmöglich konnte sie daran herunter klettern. Vor allem nicht jetzt, wo die Steine vom Regen glatt waren. Sie würde ausrutschen, sich alle Knochen brechen, sterben. Das konnte sie nicht tun.
Aber als sie sich umdrehte, sah sie, dass es zu spät war. Vor ihr, in einigen Metern Entfernung, erblickte sie ihn zwischen den Bäumen. Den schwarzen Schatten eines Mannes. Er hatte sie eingeholt.
Carolin begann zu schreien.
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Sie kam nie zurück
HorrorBei einem abendlichen Waldspaziergang mit ihrem Hund glaubt die 15-jährige Carolin, einen Schatten zwischen den Bäumen zu sehen. Zuerst glaubt sie, es sei nur Einbildung. Aber schon bald wird ihr klar: Wer auch immer dort lauert, er ist hinter ihr h...