Brief 1

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Liebes Spiegelbild,
bitte sei mir nicht mehr böse. Ich sehe doch, wie du sofort seine Lippen zu schmalen Strichen zwingst, wenn wir uns sehen. Deine Hände verkrampfen sich, als hättest du tonnen von Wut zu verstecken. Das sehe ich nicht nur, nein, ich fühle es auch.
Ich kann während ich beobachte, wie du deine Fingernägel in deinen rechten Arm krampfst, spüren wie die meinen sich in die selbe Stelle eingraben und kann meist noch minuten später die schmerzenden Abdrücke betrachten.
Erstaunt darüber was du, liebes Spiegelbild, für eine Macht über mich hast.
Ich weiß nicht wann genau du dich dazu entschlossen hast, gegen mich Krieg zu führen. Ich kann nicht behaupten, dass mir genau in diesem einen Moment etwas einfiel oder das ich etwas besonderes spürte. 
Ich weiß nur, das ich irgendwann vor dir stand, dich ansah feststellte, dass du mich nicht mehr anlächelst.
Die kleinen Lachfältchen die du sonst immer zeigst wenn wir uns sahen, sind verschwunden. Ich kann sie nirgends finden, nicht mal wenn ich ganz nah an dich ran gehe  und stundenlang da stehe.
Stattdessen fährst du mit deiner Händen über deinen Bauch und ziehst ihn ein der versuchst mit deinem zeigefinger deine Mundwinkel nach oben zu heben.
Aber auch dann tauchen keine Lachfältchen auf und es hat gerade mal so lange bis du deine Finger löst und mit ihnen deine Haare richtest oder an deinen Klamotten rum fummelst. Am meisten daran stört mich, dass ich dir alles Nachmache. Wenn du mit angeekeltem Blick dein Körper betrachtest tue ich das auch. Wenn du mit zittrigen Händen deine Haare in das Ohr wischt tue ich das auch. Aber warum? Warum kannst du nicht glücklich sein? Warum hast du dich selber so? Warum denkst du dass du so wenig wert bist? Warum willst du so viel an dir ändern? (denkst du ich merke nicht wie du die Augen anwendest, wenn wir uns sehen) Sei doch zufrieden mit dem was du hast. 
Liebes Spiegelbild,
mir ist etwas klar geworden. Du hast all diese Sachen nicht Schuld. Es bist nicht du die ihre Lippen zu Strichen zwingt, wenn wir uns sehen. Es bist nicht du die ihre Hände verkrampft oder mit ihren Händen über ihren Bauch streift und ihn einzieht. Du zwingst mich nicht dazu. Ich zwinge dich dazu. 
Ich bin mir sicher dass du viel lieber lächeln würdest und die Sachen die du trägst hübsch findest. Ich bin mir sicher dass du viel lieber ein fröhliches Mädchen reflektieren würdest. Bestimmt würde es uns beiden gut tun zu lächeln und nicht immer auf diese Suche nach noch mehr Fehlern zu verharren. 
Pass auf, liebes Spiegelbild, ich mache dir ein Angebot. Wann immer wir uns sehen wir werden unsere Blicke nicht abwenden. Wir lächeln und zwingen unsere Lippen nicht zu strichen. Lass uns zu winken und die Hände nicht zu Fäusten ballen. Lass uns drehen und unsere Kleidung schön finden, anstatt auf Fehlersuche zu gehen. Wir sind kein Wimmelbild! Lass uns aus dem gehassten Spiegelbild ein geliebtes machen.
Ich hoffe auf deine Zuarbeit, aber denke nicht dass du alles alleine machen musst. Ich werde anfangen und auch wenn es Zeiten gibt, wo du nicht zurück lächelst werde ich nicht aufgeben. Werde dir zu winken, lächeln und froh sein dass du da bist.
                         Dein Spiegelbild

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