1 - Hallo, Opa!

170 12 0
                                    

"Prächtig, wundervoll, der Band dieses Buches ist faszinierend!", waren die ersten Worte, die ich las. "Sehr komisch, es erweckt den Eindruck, als würde ich lesen, wie jemand dieses Buch liest.", stand ein paar Sätze später. Ich wusste nicht genau, wie ich mit diesem ersten Eindruck umgehen sollte, entschied mich aber dazu, wenigstens die ersten Seiten zu lesen, um dem Buch damit eine Chance zu geben. Ich hatte bereits ein paar Dinge über dieses Buch gehört, unter anderem, es sei mit einem Fluch belegt. Ich glaube das zwar nicht, mein Großvater war allerdings total von diesem Märchen überzeugt. Ich hatte es mir in einem bequemen Sessel am Kaminfeuer mit einer Tasse Tee gemütlich gemacht und las währenddessen, wie sich der Erzähler des Buches woanders saß, um ebenfalls dieses Buch zu lesen. Er erzählte außerdem darüber, wie auch er ein Buch las, welches ebenfalls den Eindruck vermittelte, als würde man nur jemand anderem dabei zugucken, wie er das Buch liest. So ging es immer weiter und weiter, sodass man sich selbst offenbar am Ende einer langen Kette an Lesern befand. Aber wieso hat das Buch noch keinen klaren Handlungsstrang, sondern sah irgendwie eher aus, wie ein Tagebuch. Um genau zu sein, sah sogar die Schrift recht handschriftlich aus, also könnte es wirklich eins sein. Ich hatte dieses Buch beim Aufräumen meines Dachbodens gefunden, in einer Kiste mit altem Krempel meines Opas. Da dieser ja, wie bereits gesagt, von diesem Buch fasziniert war, packte mich die Neugier und nun sitze ich hier. Ich blätterte um und erblickte eine andere Schrift, etwas größer, als die zuvor gelesene Handschrift.

"Willkommen?"

Etwas verwirrt, dass dort nur "Willkommen?" stand, las ich weiter, auf der Suche nach einer Antwort. Die Schrift war rot glänzend, als wäre sie frisch aufgetragen worden, der Rest des Buches hingegen bestand aus bereits vergilbten Seiten, hier und dort waren die Wörter sogar zum Teil unlesbar. Ich wusste absolut nicht, was ich von diesem Buch halten sollte, es war irgendwie komisch, komisch im Sinne von merkwürdig, unverständlich. Sollte ein Buch nicht für den Leser möglichst greifbar geschrieben worden sein, verständlich und nachvollziehbar? Dieses Buch war alles andere, als das und ich legte es erst einmal zur Seite, um mich einem anderen Buch zu widmen, welches ich ohnehin schon seit einiger Zeit lesen wollte



Es ist ein paar Tage später, täglich bin ich an dem Buch vorbeigelaufen mit der Frage nach der Antwort auf das Willkommen, also hat die Neugier nun doch gesiegt und ich las weiter. Der Erzähler in dem Buch hatte offenbar keine Pause gemacht. Ich setzte mich also wieder an den Kamin, dieses Mal hatte ich allerdings leider keinen Tee. Auf der Seite stand nur "Willkommen?", erst weiter unten ging es wirklich weiter.

"Dieses Buch wurde zuletzt gelesen von: Robert Richard Perkins". Sekunde, mein Opa hieß so, aber sein Name war auf die Seite gedruckt und nicht handschriftlich geschrieben. Etwas verwirrt las ich weiter. "Der letzte Leser hat die Prüfung nicht bestanden. Wenn Sie die Prüfung annehmen wollen, blättern Sie jetzt um."

Mehr stand auf der Seite nicht, nur das "Willkommen?", der Name und der Satz. Ich weiß nicht besonders viel über meinen Opa, alles was ich wusste ist, dass er immer von diesem Buch erzählt hat. Er war geistig erkrankt und sei nicht viel später gestorben. Die letzten Monate seines Lebens schwärmte er nur von diesem Buch und wollte unbedingt, dass jemand es las. Aufgrund seines geistigen Zustandes hatte er allerdings vergessen, wo er das Buch hingelegt hatte, daher hat es keiner gefunden. Ich hatte es mal beim Aufräumen gefunden und mir damals nicht viel dabei gedacht. Erst nach und nach fügte sich das Bild zusammen und mir wurde klar, dass es sich um dieses Buch handeln musste, was mein Opa immer erwähnt hatte.

Ich blätterte kurz zurück. Mir fiel auf, dass die Formulierungen des Textes vor der Seite mit den wenigen Sätzen einen familiären Klang hatten. Nein, das konnte nicht sein. Ein Satz lautete "Prächtig, wundervoll, der Band dieses Buches ist faszinierend!". Mein Opa hatte dies immer gesagt, wenn er von etwas wirklich angetan war, es war immer "Prächtig, wundervoll, faszinierend.". Es würde doch aber nicht so sein, dass mein Opa dieses Buch geschrieben hatte, oder? Ich weiß wirklich nicht, was ich hiervon halten soll. Ich blätterte wieder zur Seite mit dem "Willkommen?" und sah die Seite einen Moment zweifelnd an. "Wenn Sie die Prüfung annehmen wollen, blättern Sie jetzt um.", sollte ich es wagen?

Meine Güte, habe ich mich das gerade wirklich gefragt? Es ist nur ein Buch, das ist gedruckt, das war's. Da ist nicht mehr dran, dachte ich mir und blätterte um.

ChainedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt