Nachdem ich gestern das Mittagessen sowie das Abendessen ausfallen gelassen habe, hat Carrie beschlossen es sich als persönliche Aufgabe zu machen, mich zu jeder Mahlzeit zu begleiten, sodass ich auch gar nicht erst auf die Idee komme, magersüchtig zu werden. Allein der Gedanke, dass ich magersüchtig werden könnte, ist total abwegig. Dafür liebe ich Essen viel zu seh! Auch wenn das nicht den Anschein macht, da ich von Natur aus relativ schmal gebaut bin. Deshalb besitze ich leider auch nicht die größte Oberweite, aber damit habe ich mich mittlerweile abgefunden. Einzig meine Hüfte ist im Gegensatz zu meinem restlichen Körpernrelativ ausgeprägt, was aber auch dazu führt, dass mir ständig irgendwelche Typen auf den Arsch starren.
Wie versprochen, steht Carrie heute um kurz vor 8 Uhr morgens vor meinem Zimmer, um mich abzuholen. Es ist gefühlt noch viel zu früh, um den Tag überhaupt zu starten. Während Carrie schon bester Laune ist, schleppe ich mich hinter ihr die Treppen runter und versuche bloß die Augen offen zu halten. Meine Augenlider kommen mir unglaublich schwer vor, was leider dazu führt, dass sie immer wieder zufallen. Ich hätte gestern Abend echt nicht mehr so lange mit Carrie quatschen dürfen. Wie schafft sie es bloß so wach und voller Energie zu sein? Erst das helle Licht des Speisesaals, scheint meine Augen etwas wacher zu machen. Ich steuere sofort die Kaffeemaschine an und lasse die warme Flüssigkeit in einen Plastikbecher tropfen. Mein Körper benötigt jetzt unbedingt Koffein, um den Tag überhaupt überleben zu können. Dazu mache ich mir noch einen kleinen Obstsalat, da ich gerade wirklich nicht hungrig bin und ich Carrie nicht in ihrer Magersuchttheorie bestärken will. Carrie hingegen stapelt sich einen Haufen Rührei mit Speck auf ihren Teller und schenkt sich dazu einen O-Saft ein. An unserem Tisch sind heute lediglich Quinn und Lennart anwesend, wohingegen Katie wohl beim Training ist. Sie habe ich bis jetzt auch nicht wirklich zu Gesicht bekommen. Oder vielleicht doch, nur ich wusste nicht, dass sie es ist.
"Oh hey Leute, ihr habt gerade Phoebe verpasst, die zur Bücherei gegangen ist.", faselt Lennart schon drauf los, als wir am Tisch angekommen sind.
"Was ein Jammer, aber spätestens beim Mittagessen sehen wir sie wieder.", Carrie lässt sich schulterzuckend neben Lennart fallen. Ich will mich gerade neben Quinn setzen, doch dann ergreift er schon das Wort: "Setz dich besser wo anders hin." Sein eisiger Ton lässt mich innerlich zusammenzucken, aber ich lasse es unkommentiert und laufe um den Tisch herum, nur um mich dann auf einen freien Platz niederzulassen.
"Quinn, was war das denn?", hackt Lennart verständnislos nach.
Quinn zuckt mit den Schultern: "Ihr könnt ja gerne einen auf Frieden, Freude, Eierkuchen mit der da machen, aber lasst mich da bloß raus. Ich will nichts mit falschen Menschen zu tun haben." Jetzt zucke ich tatsächlich vor seinen gemeinen Worten zusammen.
Er würdigt mich nicht mal eines Blickes, als er wieder beginnt sich sein Rührei in den Mund zu schaufeln.
"Das ging jetzt echt zu weit. Paige hat dir nichts getan. Also behandle sie doch nicht wie eine hinterlistige Schlange.", verteidigt mich Lennart, der Quinn mit seinem Blick fixiert hat.
"Aber genau das ist sie doch, oder merkt ihr das nicht?! Warum sollte eine wie sie, mit uns abhängen?", entgegnet Quinn Augen verdrehend.
"Quinn...", schreitet nun Carrie ein, doch ich unterbreche sie: "Leute, es ist schon gut. Wenn er so eine Meinung von mir hat, dann ist das nun mal so und ich will echt nicht, dass ihr euch jetzt deswegen streitet, aber danke, dass ihr für mich einsteht.", mit diesen Worten verlasse ich den Tisch. Mir ist jetzt vollends der Appetit vergangen. Gerade als ich mein Tablett abstellen möchte, kommt mir eine lächelnde Sienna entgegen und selbst aus dieser Entfernung erkenne ich, dass es nicht echt ist. "Einen wunderschönen guten Morgen, Paige. Hast du gut geschlafen?", säuselt sie mir zu.
"Ja, den Umständen entsprechend und du?", antworte ich knapp und möchte mich schon zum Gehen wenden, doch ihre wohlgeformten Beine stellen sich mir in den Weg.
"Wie auf Wolken. Deinen Obstsalat hast du aber nicht wirklich angerührt.", stellt sie mit einem Blick auf meinem Tablett fest.
"Mir ist irgendwie der Appetit vergangen.", ich zucke beiläufig mit den Schultern und versuche mich erneut an ihr vorbeizuschieben, was Sienna gekonnt verhindert, indem sie ihre manikürte Hand auf meinen Arm legt.
Ein umwerfendes Lächeln breitet sich auf Siennas Gesicht aus:
"Oh, da solltest du vielleicht mal den Joghurt probieren, denn dieser schmeckt einfach delikat."
Bevor ich irgendwas antworten kann, schnappt Sienna schon nach ihrem Joghurt und kippt mir diesen über den Kopf. Ich spüre wie sich die klebrige Masse auf meinen Kopf verteilt, während ich einfach nur mit offenem Mund dastehe. "Ups, aber mach' dir nichts daraus, der Joghurt verleiht dir das gewisse Etwas.", sie grinst mich noch boshaft an, bevor sie sich ihr rotblondes Haar über die Schultern wirft und auf ihren High Heels davon stolziert. Der dickflüssige Joghurt beginnt auf den Boden zu tropfen und er hinterlässt dabei eine weiße Spur auf dem Boden. Ich bin unfähig mich zu bewegen und bleibe stocksteif auf meinem Platz stehen. Erst jetzt merke ich, wie die ersten Schüler auf mich deuten und beginnen zu kichern. Ich fahre mir hektisch mit den Händen durch die Haare und versuche so viel Jogurt wie möglich zu entfernen. Aber statt es besser zu machen, verschlimmere ich das Ganze nur, denn der Joghurt verklebt sich immer mehr in meinen Haaren und auch das Kichern und Lachen der Schüler wird zunehmend lauter. Schließlich entscheide ich mich dazu aus dem Speisesaal zu stürzen und zum Waschraum zu laufen. Mit gesenktem Kopf laufe ich den Flur entlang, aber kurz vor der Treppe zum Mädchentrakt stoße ich mit jemanden zusammen. Ich entschuldige mich schnell und will schon weiter laufen, doch die Person hält mich auf. Ich blicke auf und registriere sofort das besorgte Gesicht von Neil. Wie viel Pech kann man eigentlich haben?
"Paige, was ist passiert? Ist alles in Ordnung bei dir?", Neils sorgenvolle Stimme bringt mein Herz wieder zum höher schlagen. Meine Güte er hat doch nur gefragt, ob alles in Ordnung sei? Wieso muss mein Herz direkt Purzelbäume schlagen?
"Sienna hat sich mal wieder einen Spaß erlaubt und dieses Mal war ich ihre Zielscheibe. Aber bis auf meine verklebten Haare und der Demütigung vor der halben Schule ist alles in Ordnung.", kläre ich ihn in einem ruhigen Tonfall auf, obwohl es eigentlich in mir kochen sollte. Das tut es aber nicht. Dafür habe ich diese Abreibung echt mehr als verdient.
"Typisch Sienna... Hast du ihr wenigstens eine Schelle verpasst?", will er wissen und ein kleines Grinsen bildet sich auf seinem Gesicht.
Ich beginne zu schmunzeln: "Leider nicht, aber vielleicht das nächste Mal."
"Ach man, ich hätte zu gerne ihr ach so perfektes Gesicht gesehen, wenn du ihr so richtig schön eine geklatscht hättest.", seine braunen Augen beginnen vor begeistert zu leuchten.
Und auch mir schleicht ein kleines Lächeln ins Gesicht beim Gedanken, Sienna eine zu klatschen.
"Die Vorstellung an sich ist wirklich verlockend, aber ich will es echt nicht darauf ankommen lassen und selbst wenn Sienna sich manchmal unmöglich verhält, hat sie es trotzdem nicht verdient, von jemanden geschlagen zu werden.", weise ich Neil etwas vorwurfsvoll zurecht, wobei ich jedoch immer noch grinsen muss.
"Schade.", erwidert er nur mit einem schiefen Grinsen. Ich will echt nicht wissen, was gerade in seinem Kopf vorgeht.
"Okaaay, dann gehe ich eben mal, das von meinen Kopf beseitigen.", ich deute auf den Joghurt.
"Na dann viel Spaß dabei.", meint Neil, während er sich die wirren braunen Haare zur Seite streicht. Er bräuchte echt mal einen Kamm.
Wir beide wenden uns zum Gehen und gerade als ich die Treppen erreiche, ruft mir Neil noch hinterher: "Oh und Paige...", ich wende mich wieder zu Neil "....du siehst verdammt lächerlich aus.", sagt er mit einem schadenfrohen Grinsen. Und genau jetzt ist es um mich geschehen, denn ich beginne lauthals zu lachen.
"Danke Neil, das war mir bis eben nicht bewusst.", antworte ich immer noch lachend.
"Immer wieder gerne.", er deutet eine Verbeugung an und setzt dann seinen Weg mit einem breiten Grinsen fort und ich tue es ihm gleich.
Ich hätte echt nicht gedacht, dass ich nach unserem gestrigen Gespräch jemals wieder vernünftig mit Neil sprechen würde. Vielleicht benötigt man manchmal einfach lächerliche Situationen, um die Stimmung etwas aufzulockern. Ich habe zwar keine Ahnung wie es mit Neil und mir weitergehen soll und was jetzt richtig oder falsch ist, aber ich bin Sienna einfach gerade für diesen humorvollen Augenblick dankbar.Das Duschen jedoch gestaltet sich nicht so einfach... Es dauert eine Ewigkeit bis ich den ganzen Joghurt aus meinen Haaren entfernt habe und auch das darauf folgende auskämen ist eine schmerzhafte Angelegenheit. Eine Dreiviertelstunde später kann ich den Duschraum dann doch noch fertig verlassen, aber der Blick auf die Uhr bringt mein Herz zum Rasen. Der Unterricht hat vor exakt zehn Minuten begonnen. Hektisch laufe ich in mein Zimmer, um meine Schulsachen zu holen, nur um dann schnell wieder den Raum zu verlassen und zum Kursraum zu laufen. Dabei renne ich wie eine verrückte durch die leeren Flure.
"Paige? Warte mal bitte einen Moment.", unterbricht mich Mrs Greenwood. Oh man, das hat mir gerade noch gefehlt. Ich drehe mich zögernd um, doch anders als erwartet, ist kein Funken von Wut in ihrem Blick zu sehen.
"Ich war gerade auf dem Weg, dich vom Unterricht abzuholen, aber da habe ich ja Glück gehabt, dass ich dich hier noch erwische. Hast du verschlafen?", fragt sie mit einem wissenden Lächeln nach.
"Nein, mir wurde lediglich eine Portion Joghurt über den Kopf geschüttet.", antworte ich, aber ich muss nun auch grinsen, weil das einfach komplett lächerlich klingt.
"So eine spezielle Ausrede habe ich schon lange nicht mehr gehört. Aber wie ich sehe, ist alles wieder gut bei dir. Würdest du mich dann eben zum Büro begleiten?", fragt sie höflich nach, obwohl es auf der Hand liegt, dass ich keine wirkliche Wahl habe.
"Natürlich.", entgegne ich freundlich.
Während Mrs Greenwood mit so einer Grazie vor mir her schreitet, fühle ich mich wie ein Fohlen, das gerade laufen gelernt hat, hinter ihr. Vor ihrem Büro bleibt sie schließlich stehen und fischt den Schlüssel aus ihrem Blazer.
"Bitte nach dir.", lässt sie mir den Vortritt, als die Tür offen steht. Ich schlüpfe sofort hinein und nehme gegenüber von ihrem Schreibtischstuhl Platz. Sie schließt die Tür noch und setzt sich dann hinter ihren Schreibtisch.
"So Paige, wir hatten bis jetzt bedauerlicherweise nicht die Möglichkeit ausführlich über alles zu sprechen. Wie ist es dir an deinem ersten Schultag ergangen?", erkundigt sie sich und ich merke, dass sie das wirklich interessiert und nicht nur höflichkeitshalber nachfragt.
"Nun ja, was soll ich schon sagen. Es war halt genau so, wie ich es erwartet habe. Meine alten Freunden wollen nichts mehr von mir wissen, aber dafür habe ich ein paar neue Leute kennengelernt, mit denen ich mich momentan ganz gut verstehe.", berichte ich ihr.
"Das klingt ja gar nicht so schlecht. Hast du denn schon das Gespräch mit Sienna gesucht?", sie schaut mich über ihre Brille hinweg an.
"Nun ja..", ich zögere "...wissen Sie, ich denke Sienna hat damit abgeschlossen und ich will keine alten Wunden aufreißen.", ich zucke mit den Schultern.
"Man sagt zwar immer, dass die Zeit alle Wunden heilt, aber das muss nicht immer der Fall sein. Weißt du, als du gegangen bist, hat Sienna sich immer mehr zurückgezogen und ihre Mitschüler noch mehr als zuvor schikaniert. Das lag vielleicht auch daran, dass sie niemanden zum Reden hatte. Ich weiß, es ist schwer, aber vielleicht solltest du mit ihr nochmal das Gespröch suchen und auch über Nelly sprechen.", als Mrs Greenwood Nelly erwähnt, bleibt mir kurz das Herz stehen. Wenn Mrs Greenwood nur wüsste, dass ich nur wegen ihr zurückgekehrt bin... ich wende den Blick schnell ab, damit sie bloß nicht meine Gedanken erahnen kann, denn darin ist unsere Direktorin unschlagbar. "Ich kann Ihnen nichts versprechen. Wie ich Sienna kenne, wird sie wieder abblocken. Aber ich werde es in nächster Zeit versuchen.", kündige ich an. "Danke, Paige. Ich weiß, wie schwer es dir fällt, aber ich möchte jetzt endlich alle Konflikte beiseite schaffen. Damit wieder eine ausgelassene Stimmung entstehen kann.", ihre braunen Augen beginnen zu funkeln und erst jetzt merke ich, dass es ihr nicht nur um Sienna und mich geht, sondern um alle Schüler. Es ist durchaus verständlich, aber irgendwie tut es trotzdem weh. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt angenommen habe, dass es ihr nur um Sienna und mich geht... Sie ist die Direktorin und muss schließlich an das Wohl von allen Schülern denken und nicht nur von einzelnen.
"Kein Problem, ich möchte schließlich auch, dass alles wieder gut wird.", flüstere ich, obwohl ich weiß, dass das niemals der Fall sein wird. Jedenfalls nicht bei Sienna und mir.
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Arcvus
Mystery / ThrillerEin Jahr ist vergangen. Ein Jahr voller Leid, Kummer und Sehnsucht. Doch die siebzehnjährige Paige wünscht sich nichts sehnlicher, als endlich mit all dem abzuschließen und wieder in ihr geliebtes Internat zurückzukehren. Als sie dann noch ihrer ers...