VI

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Da ich sowieso schon so gut wie die ersten beiden Stunden verpasst habe, beschließe ich die gesamte zweite Stunden ausfallen zu lassen und erst zum Französischunterricht zu erscheinen. Bedauerlicherweise muss ich vorm Raum aber feststellen, dass Sienna auch in meinem Kurs ist. Wie ätzend. Seufzend laufe ich an ihr vorbei und suche mir einen guten Platz. Ich entdecke sofort die zierliche Phoebe, die allein in der zweiten Reihe sitzt. Soll ich zu ihr gehen? Ich ringe innerlich mit mir, denn es könnte schließlich auch sein, dass Phoebe mich überhaupt nicht leiden kann genau wie Quinn.
Aber wenn ich es nicht ausprobiere, werde ich niemals wissen, ob Phoebe mich akzeptiert oder nicht. Deswegen beschließe ich kurzer Hand zu ihr zu gehen. Ich lege eine Hand auf den Stuhl neben ihr und frage an sie gewandt: "Ist der Platz hier noch frei?"
Phoebe hebt den Blick und ihre blauen Augen schauen mich überrascht an, doch dann nickt sie. Erleichtert setzte ich mich, nur um dann mein Französischbuch herauszuholen und unbeholfen darin herumzublättern. Schließlich scheint Phoebe, die ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorne gerichtet hat, nicht an einem Gespräch interessiert zu sein. Das kann ich ihr auch nicht übel nehmen, denn Smalltalk ist noch nie wirklich mein Ding gewesen. Ich beneide die Leute schon fast, die um Gott und die Welt sprechen können. Als die Lehrerin, die ziemlich jung wirkt, in den Raum spaziert kommt, habe ich schon Angst, dass sie gleich über ihre eigenen Füße stolpert, denn sie bugsiert jeglichen Kram für den Unterricht in den Raum. Dabei hat sie unter anderem einen CD Player auf mehrere Wörterbücher deponiert, sodass der riesige Haufen auf ihrem Arm abwechselnd nach links und rechts schwangt und sie diesen mit ihren Schritten auszubalancieren versucht. "Das wird nicht gut gehen.", flüstert ein Schüler hinter mir. Alle verfolgen die Darbietung gespannt und niemand rührt auch nur einen Finger, um ihr zu helfen. Eigentlich ziemlich egoistisch. Die Hilfe braucht die Lehrerin dann aber doch nicht, denn sie schafft es den Haufen sicher auf ihrem Pult zu verstauen. Kurz darauf kommen auch schon Sienna und ein Mädchen, das ich nicht kenne in den Raum stolziert. Und bei meinen Glück setzt sich Sienna direkt neben mich.
"Hey Paige, war die Portion Joghurt schmackhaft?", erkundigt sie sich flüsternd bei mir.
"Ja, meine Haare fühlen sich jetzt richtig schön weich an. Vielleicht solltest du das auch mal bei deinem Spliss versuchen.", erwidere ich und fahre mir dabei durch die braunen Haare. Sienna schnaubt und wendet ihren Blick nach vorne.
"Ich besitze nicht mal einen Ansatz von Spliss.", stellt sie kühl fest und ich kann nicht anders als sofort zu grinsen.
Doch dann weicht mir das Lächeln wieder aus dem Gesicht, schließlich sollte ich nicht so gemein zu Sienna sein, nur weil sie das mir gegenüber ist. Ich habe mich geändern und ich will nicht wieder in alte Verhaltensmuster fallen, nur weil ich wieder hier bin und gerade einmal zwei Minuten neben Sienna sitze.
"Tut mir leid.", flüstere ich Sienna zu.
Sie wiederum schaut mich irritiert an:
"Für was entschuldigst du dich denn?"
Ich schaue in ihre grauen Augen und merke, dass sie wirklich keine Ahnung hat, warum ich mich entschuldige und das tut mir noch mehr leid und zwar für sie.
"Nur weil du zu mir gemein bist, heißt das nicht, dass ich es ebenfalls tun muss.", erkläre ich ihr.
Ihr Blick birgt zuerst ein gewisses Maß an Trauer, doch dann fängt sie sich schnell wieder und schaut mich mit einem hochnäsigen Blick an:
"Du bist so lächerlich, Paige. Wenn du mit allen so umgehen wirst, dann werden dir nachher alle auf der Nase herumtanzen. Egoisten werden immer den meisten Erfolg haben."
Bevor ich überhaupt antworten kann, beginnt unsere Lehrerin schon mit dem Unterricht:
"Bonjour, je m'appelle Madame Bonnet et je parlerai de votre professeur de français l'année prochaine."
In der Klasse ist es mucksmäuschenstill, während alle die kleine Lehrerin anstarren, aus der gerade ein unglaublich fließendes und schnelles Französisch herausgekommen ist. Denn eigentlich ist man auf diesem Internat eher gewohnt, dass die Französischlehrer ein fast genau so schlechtes Französisch sprechen wie die Schüler. Halleluja das kann ja dieses Jahr was werden.
"Notre premier sujet est Paris, qui est un sujet très divers et intéressant. J'ai cru comprendre qu'un étudiant était à Paris l'année dernière. Paige, voudriez-vous nous parler de vos expériences?", redet die Madame Bonnet weiter und plötzlich richtet sich die Aufmerksamkeit des ganzen Kurses inklusive der der Lehrerin auf mich.
Oh Gott, was hat sie da nur gerade geredet? Irgendwas mit Paris und mir... Vielleicht hat sie gefragt, wie es in Paris war? In meinem Gehirn scheint es zu rattern. Komm schon Paige sag irgendwas.
"Öhm... À mon avis, Paris est une très belle ville.", antworte ich, da ich absolut nicht in der Lage bin komplizierte Sätze auf französisch zu bilden. Die Lehrerin scheint sich allerdings nicht mit der Antwort, dass Paris eine sehr schöne Stadt ist, zufrieden zu geben, denn sie starrt mich weiterhin erwartungsvoll an. Sie soll bloß aufhören mich so anzustarren, denn da wird nichts mehr folgen. Kann mich bitte einfach irgendjemand aus dieser Situation befreien? Genau in diesem Moment schießt die Hand von Phoebe in die Luft.
Madame Bonnet nimmt sie mit einem Nicken dran.
"Je pense que Paris est une ville pleine de possibilités. Du moins sur le plan professionnel, car c’est une immense métropole pour la mode, la culture et l’économie. Les gens sont spontanés et réalisent leurs rêves. C'est la chose fascinante à propos de cette ville.", rattert Phoebe in einem perfekten Französisch herunter, während ich sie nur mit offenem Mund anstarre. Wie zum Teufel kann sie nur so gut französisch sprechen? Davon abgesehen, dass ich völlig erstaunt bin, habe ich keine Ahnung, was sie da gerade gesagt hat und da bin ich wahrscheinlich auch nicht die Einzige.
"Très bien.", lobt Madam Bonnet sie und fährt dann mit ihrem Unterricht fort.
"Danke, Phoebe.", flüstere ich ihr zu, aber sie zuckt nur mit den Achseln, als ob es keine große Sache gewesen wäre.
"Gern geschehen.", erwidert sie dann dennoch.
Die restliche Stunde über vergrabe ich mich hinter meinem Buch und hoffe, dass mich die Lehrerin nicht nochmal drannimmt. Denn dieses eine Mal hat mir schon für den Rest des Jahres gereicht. Als wir dann endlich den Raum verlassen dürfen, kommt Phoebe auf mich zu, was mich ziemlich überrascht.
"Du warst das letzte Jahr über gar nicht in Paris, oder?", erkundigt sie sich leise.
Ich nicke einfach nur, da es auf der Hand liegt.
"Okay, aber wenn du möchtest, dass dein Geheimnis sicher ist, dann solltest du schleunigst versuchen dein Französich zu verbessern. Das heute könnten alle als Ausrutscher ansehen, aber wenn du weiterhin so schlecht sprichst, wird sich schnell verbreiten, dass du gelogen hast.", raunt sie mir weiter zu. Sie hat absolut recht und ich muss mich echt etwas reinhängen, um mein Geheimnis zu schützen.
"Aber warum deckst du mich?", hacke ich verblüfft nach, weil wir uns ja nicht wirklich kennen.
"Weißt du, irgendwo hat ja jeder sein Päckchen mit sich zu schleppen und du scheinst mir ganz vernünftig und aufrichtig freundlich zu sein. Also warum sollte ich dir nicht helfen?", sie streicht sie eine blöde Strähne aus dem Gesicht.
"Danke.", flüstere ich ihr heute schon zum zweiten Mal zu, doch dieses Mal reagiert sie mit einem Lächeln.
"Wir sehen uns noch Paige.", verabschiedet sie sich noch, bevor sie im Gang zwischen den Schülern verschwindet. Dank dem Ausfall der vierten Stunde, habe ich das Glück, eine kleine Pause zu machen. Ohne großes überlegen, entscheide ich mich sofort, an die frische Luft zu gehen. Dazu schleppe ich mich wieder die zwei Stockwerke hinunter, nur um den Hinterausgang des Internats zu erreichen, der zu einem kleinen, aber dafür umso schöneren, Park führt. Ein schmaler Kieselpfad schlängelt sich durch den gesamten Park. Dabei verläuft dieser besagte Weg zum Ende hin zu einem Trampelpfad, welcher die Grünfläche mit der Sportanlage verbindet. Auch wenn hier von einem Park die Rede ist, ist dieser nicht an den typischen englischen Garten angelehnt, sondern lässt viel Freiraum für Natur. Manche Leute würden behaupten, dass es einfach nur ungepflegt aussähe, aber ich finde, dass es so genau richtig ist. So vergisst man manchmal auch, dass man sich auf einem Elite Internat befindet und man kann einfach mal die scheinbare Natur genießen. Während ich den Anblick genieße, schlendere ich den Weg entlang und lasse mich schließlich auf meine Standardbank fallen. Ich schließe einfach nur die Augen und genieße dabei das Zwitschern der Vögeln, das Rascheln der Bäume und sogar den Duft der Gänseblümchen. Ich habe diesen Park echt vermisst, er war und wird einfach immer ein kleiner Rückzugsort für mich bleiben. Erst als ein sanfter Windstoß mir die Haare ins Gesicht fegt, öffne ich wieder die Augen. Als ich meinen Blick weiter durch das Grün schweifen lasse, merke ich, dass so gut wie kein Schüler hier ist. Irgendwie schade, dass diese Anlage hier nicht für jeden Schüler die verdiente Anerkennung erhält. Plötzlich höre ich leise Schritte und mein Kopf schießt sofort nach rechts, doch es ist bloß eine Joggerin, die noch in weiter Ferne ist. Wie kann man denn bitte so viele Ambitionen haben und sogar in seiner Freistunde joggen gehen? Ich schüttle einfach nur den Kopf, weil selbst mir das eine Nummer zu hart ist. Erst beim Näherkommen merke ich, dass das Mädchen einfach einen unglaublich perfekt durchtrainierten Körper besitzt und sie auch ein ziemlich gutes und gleichmäßiges Tempo drauf hat. Ihr dunkler Pferdeschwanz schwankt abwechselnd nach rechts und links, während sie läuft. Ich ertappe mich, wie ich beginne jeden Schwung ihres Zopfes zu zählen. Jetzt bin ich an dem Punkt angekommen, an dem ich mich wie ein älterer Herr fühle, der junge Mädels dabei stalkt wie sie Sport machen und dabei immer ganz versehentlich einen Blick auf ihren Hintern oder auf ihre Brüste wirft. So weit ist es bei mir bis jetzt noch nicht gekommen, aber dennoch fühle ich gerade nicht besser als so ein Spanner.
Ich wende den Blick wieder ab und schaue stattdessen auf Arcvus. Auch wenn ich mir noch nie so viele Gedanken um dieses Internat gemacht habe, ist es dennoch ein sehr bemerkenswertes Gebäude. Da es ein Altbau ist und sich dazu noch über mehrere duzende Quadrate erstreckt, hat es schon fast etwas schlosshaftes an sich. Das beige Gestein ist einfach nur unglaublich präzise gearbeitet worden, sodass sich schöne Strukturen auffinden lassen, die dem Ganzen noch das gewisse Etwas verleihen.
"Arcvus ist echt atemberaubend schön, oder?", höre ich eine weibliche Stimme direkt neben mir.
Ich zucke unwillkürlich zusammen und ein kleiner Schrei entfährt mir, bevor ich mich zu der besagten Stimme wenden kann. Es ist die Joggerin, die ich bis eben beobachtet habe. Sie beißt sich auf die Unterlippe, um ihr Grinsen zu unterdrücken: "Tut mir leid, es war wirklich nicht meine Absicht, dich zu erschrecken.", sie wischt sich einige Schweißperlen aus ihrem Gesicht.
"Schon gut, ich hatte nur nicht erwartet, dass jemand direkt neben mir stehen würde. Aber du hast recht, Arcvus ist einfach nur atemberaubend.", bestätige ich mit einem Lächeln.
Nun erscheint auch auf ihrem Gesicht ein umwerfendes Lächeln, das sie zum Glück nicht mehr unterdrückt.
"Ich bin übrigens Katie.", stellt sie sich vor. Das ist also die besagte Katie, die ständig bei den Mahlzeiten fehlt, nur um zu trainieren. Ich habe mir schon gedacht, dass sie ziemlich trainiert sein muss, aber ich hätte nie damit gerechnet, dass sie so umwerfend aussieht. Aber das fesselnde an ihrem Erscheinungsbild sind definitiv nicht nur ihre Bauchmuskeln, sondern viel mehr ihre ausdrucksstarken blauen Augen, die einen großen Kontrast zu ihren fast schwarzen Haaren bilden.
"Von dir habe ich schon viel gehört, schließlich bist du bei fast keiner Mahlzeit anwesend. Aber ich hätte echt nicht gedacht, dass du das Training so stark durchziehst. Respekt, wo nimmst du bloß die ganze Motivation her? Und bevor ich es noch vergesse, ich bin Paige und ich gehöre jetzt mehr oder weniger zu eurer Clique dazu. Ich hoffe, das ist kein Problem für dich.", rattere ich runter.
"Na dann Paige, es ist mir eine Freude dich kennenzulernen und ich habe natürlich kein Problem damit, wenn du mit uns abhängst. Ganz im Gegenteil, ich finde es sogar richtig cool, neue Leute kennenzulernen. Und das mit der Motivation zum Sport ist so eine Sache, ich erinnere mich einfach jeden Tag daran, was ich später mal erreichen möchte und mein Vater hat mir damals schon in die Wiege gelegt, dass es ohne Fleiß keinen Preis gibt. Aber ich würde einfach auch sagen, dass ich von Natur aus ein sehr ehrgeiziger Mensch bin.", antwortet sie schulterzuckend und nun beneide ich sie umso mehr dafür, dass sie einfach so locker darüber redet, denn sind wir mal ganz ehrlich: Erstmal Motivation finden und sie dann noch die ganze Zeit über beizubehalten, ist einfach verdammt schwer, wenn sogar nicht fast unmöglich.
"Wow, im Gegensatz zu dir fühle ich mich jetzt, wie der faulste Mensch der Welt.", erkläre ich stirnrunzelnd und Katie beginnt sofort zu lachen und ich tue es ihr gleich.
"Weißt du Paige, jeder hat andere Stärken und ich glaube kaum, dass du ein fauler Mensch bist. Man muss nur das Richtige für sich finden.", sie zwinkert mir zu.
"Wenn ich nur wüsste, was das Richtige für mich ist.", stöhne ich entnervt auf. Manchmal fühle ich mich echt wie ein inkompetentes Häufchen Elend, denn gefühlt jeder hat eine Leidenschaft, der er nachgehen kann und ich habe nicht mal den blassesten Schimmer, was ich mit mir anfangen soll.
"Das wirst du schon noch herausfinden, aber ich muss jetzt weiter, denn ich habe schon eine viel zu lange Pause gemacht. Vielleicht treffen wir uns ja mal bei einer Mahlzeit. Bis dann!", verabschiedet sie sich noch, bevor sie weiter joggt. Ich schaue ihr noch hinterher und dabei fällt mein Blick auf ihren scheinbar perfekten Hintern. Jepp, ich muss definitiv mehr Sport treiben.

ArcvusWo Geschichten leben. Entdecke jetzt