Kapitel 2

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Seufzend lasse ich mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen und genieße die Ruhe in meinem Zimmer. Ich bin mir sicher, dass mein Vater sofort von meinem neuen Tattoo bescheid weiß, sobald er zu Hause ist und dann kann ich mir erst recht etwas anhören. Wieso müssen sie sich auch ständig in mein Leben einmischen? Ich kann es kaum erwarten, von zu Hause auszuziehen.

Nachdem ich mein seltsam zusammengemischtes Essen verschlungen habe, hole ich mein Skizzenbuch hervor, schnappe mir mein Bleistift und verbringe den restlichen Nachmittag damit, meine Bilder im Kopf zu Papier zu bringen.

Am Abend klopft es an der Tür. Genervt verdrehe ich meine Augen. Gerade jetzt, wo ich meine Zeichnung endlich so hinbekomme, dass ich sie nicht sofort zerreißen möchte.

„Was?", sage ich, als es erneut klopft. Meine Schwester betritt das Zimmer. Ohne nachzufragen, was sie will, wende ich mich wieder meinem Bleistiftkolibri zu und starre konzentriert darauf. Irgendwas fehlt noch.

„Du weißt schon, dass wir heute bei Ben zum Essen eingeladen sind, oder?", höre ich Viola sagen.

„Muss ich da wirklich hingehen? Immerhin ist er dein Freund", beschwere ich mich. „Außerdem ist sein Bruder komisch."

„Paige, es reicht schon langsam!", ruft meine Schwester. Verwirrt drehe ich mich nun doch zu ihr um. Seit wann bringt irgendwas Viola aus der Fassung?

„Ständig urteilst du über andere Menschen, obwohl du sie nicht einmal richtig kennst. Schraub deine Vorurteile mal zurück." Sie funkelt mich wütend an. „Sei nicht immer so eine Zicke und komm mit zu dem verdammten Essen. Seine Familie hat uns alle eingeladen und du wirst uns begleiten."

Entgeistert starre ich sie an. So hat sie noch nie mit mir geredet. „Und wieso sollte ich tun, was du mir sagst? Außerdem sind das keine Vorurteile, denn meine Urteile bestätigen sich."

„Achja?", keift Viola mich an. „Dann sind all diese ‚Nerds', wie du sie gerne nennst, keine nette Menschen, nur weil sie andere Hobbies haben und bessere Noten schreiben?"

„Ja", gebe ich patzig zurück. „Hast du sie dir mal angesehen? Die stinken und haben ekelhafte Pickel im Gesicht."

„Gott, Paige. Du bist so kindisch", schnaubt sie. „Und was glaubst du, denken die Menschen über dich aufgrund deines Aussehens?"

„Kann mir doch egal sein", antworte ich. „Außerdem schade ich niemandem mit meiner Meinung. Immerhin denke ich das bloß und mobbe sie deswegen nicht. Die bemerken gar nicht, was ich über sie denke, also lass mich doch."

„Nein, ich lass dich nicht. Selbst wenn du es nur denkst, spricht dein Verhalten für dich. Du wirfst anderen abfällige Blicke zu und vermeidest sie. Das kann genauso verletzend sein", antwortet Viola und sieht mich weiterhin böse an.

„Schön, und was willst du dagegen unternehmen?", frage ich sie gelangweilt und richte meinen Blick wieder auf die Zeichnung.

„Ich sage dir, was ich dagegen unternehmen will. Du wirst dich mit einem deiner ‚Nerds' anfreunden, sonst erzähle ich Mum und Dad von deinen schlechten Noten und all die Unterschriften, die du jemals gefälscht hast."

Ich halte in meiner Bewegung inne, doch dann schüttle ich nur lachend meinen Kopf und setze einen weiteren Strich auf dem Papier. „Das tust du nicht."

„Und wie ich das tun werde. Anders lernst du es ja nicht", beharrt sie.

Nun schaue ich doch auf und ziehe meine Augenbrauen zusammen. „Und das bringt dir genau was?"

„Es bringt mir gar nichts. Es soll dir etwas bringen. Damit du deine blöden Vorurteile endlich loswirst. Das halt ich nämlich echt nicht mehr aus", seufzt sie.

„Und ich halte es nicht aus, wenn du dich ständig in meinem Leben einmischen willst", gifte ich sie an. „Das sind meine Entscheidungen und nicht deine. Viel Spaß bei dem Abendessen heute."

Doch Viola grinst mich nur an. „Ich tue es. Jetzt gleich." Sie steht auf und verlässt mein Zimmer.

Völlig baff starre ich ihr hinterher. Das kann sie doch nicht ernst meinen, oder? Will sie unseren Eltern wirklich petzen, was ich in meiner Schulkarriere bereits aufgeführt habe? Sie werden mir kein Taschengeld mehr geben. Sie werden mir vermutlich kein Essen mehr mitkochen. Sie werden völlig ausrasten und mich entweder sofort rauswerfen oder mich für immer einsperren. Ich weiß nicht, was die bessere Option wäre.

„Mum?", höre ich Viola durchs Haus rufen. Verdammte scheiße. Ich hasse sie. Sofort stürme ich ihr hinterher. Ich finde sie im Wohnzimmer, wo unsere Mutter sie schon fragend ansieht. Ich werfe Viola einen warnenden Blick zu, doch sie lächelt mich nur unschuldig an.

„Ich wollte nur fragen, wann wir zu Ben fahren. Paige kommt übrigens auch mit", teilt Viola ihr mit. Ich würde ihr am liebsten den Kopf abreißen. Stattdessen presse ich wütend meine Zähne zusammen.

„Ähm", meint Mum und lässt ihren Blick verwirrt zwischen uns hin und her schweifen. „Wir fahren in einer halben Stunde."

„Wo ist Casper eigentlich?" wechselt meine Schwester nun das Thema. Stimmt. Jetzt wo sie es sagt, ich habe unseren kleinen Bruder heute den ganzen Tag noch nicht gesehen.

„Er ist bei einem Freund. Wir holen ihn nach dem Abendessen ab", antwortet Mum.

„War ja klar, dass ich dazu gezwungen werde, mitzukommen, aber Casper nicht", murmle ich, doch weder Viola noch Mum reagieren darauf. Mit Casper wäre es wenigstens halbwegs erträglich geworden. Immerhin ist er der einzige in der Familie, mit dem ich zurechtkomme und das trotz den vier Jahren Altersunterschied zwischen uns.

Genervt verziehe ich mich wieder in mein Zimmer, jedoch nicht, ohne Viola noch einen Todesblick zuzuwerfen. Das werde ich ihr nicht verzeihen. Wie kommt sie auch auf die dumme Idee, mich zu erpressen? Inzwischen zweifle ich auch nicht mehr daran, dass sie mich verpetzen wird, falls ich mich nicht an ihre verdammte Forderung halte. Ob ich einen der Nerds wohl bestechen kann, damit sie so tun, als wären sie mit mir befreundet?

Was bildet sich Viola auch ein? Als ob ich nicht selbst entscheiden könnte, mit wem ich befreundet bin und mit wem nicht. Das geht sie doch absolut nichts an. Gut, wenn ich so darüber nachdenke, habe ich eigentlich überhaupt keine Freunde. Eine fünfköpfige Familie reicht mir vollkommen und selbst das ist eigentlich schon zu viel.

Wütend schlage ich mein Kopfkissen, als könnte es etwas dafür, dass Viola so scheiße anstrengend sein muss.

„In zehn Minuten ist Abfahrt!", höre ich meinen Vater rufen. Plötzlich habe ich eine brillante Idee. Wenn meine Schwester meint, mir mein Leben versauen zu müssen, werde ich eben das gleiche machen.

Mit neuer Energie rapple ich mich auf, ziehe mir eine enge schwarze Jeans an, von denen ich einfach nicht genug besitzen kann. Dazu trage ich ein schwarzes Top. Ich weiß, dass Viola es nicht leiden kann, wenn ich ständig in schwarzen Klamotten rumlaufe, aber ich muss sagen, zu meinen grünen Haaren passt es einfach zu gut. Ich schminke mich extra ein wenig zu aufwendig, zumindest so gut, wie man das in zehn Minuten eben hinbekommt, und bin schlussendlich zufrieden mit meinem Aussehen, denn ich weiß, dass Viola das nicht sein wird. Bens Eltern sind ein wenig altmodisch, deswegen konnten sie mich schon nicht leiden, als ich sie das erste Mal getroffen habe. Dabei hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal mein Schlangentattoo, das sich um meinen rechten Arm windet und nun gut sichtbar ist.

„Paige, was soll das?", meckert Mum sofort, als sie mich sieht. „Wir sind bei einem Abendessen und nicht auf einer Beerdigung." Seltsam, dass sie es noch nicht aufgegeben hat. Inzwischen sollte sie es doch gewohnt sein, dass ich fast nur schwarz trage.

Ich ignoriere ihre Aussage einfach und werfe Viola einen Blick zu, die mich nur skeptisch mustert, doch zu ihrem Glück bleibt sie still.

„Fahren wir? Ich habe Hunger", sage ich bloß und stolziere an meiner Familie vorbei. Das wird bestimmt ein amüsanter Abend.

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