Nach all den Jahren, in denen er kein einziges Mal an sie gedacht hat, steht sie plötzlich vor ihm und alles ist wieder da.
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[ New Adult | Romantik | Drama | Humor | Slice of Life ]
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Triggerwarnung: Tod, Verlust eines Freundes
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Nach all den Jahren, in denen er kein einziges Mal an sie gedacht hat, steht sie plötzlich vor ihm und alles ist wieder da. Ausgerechnet hier. Es schneit nicht, wie es in einem schlechten Film getan hätte, stattdessen strömt der Regen herab und prasselt auf seinen Schirm.
Josephine Welling erstarrt ein paar Meter vor ihm und betrachtet ihn, als sei er ein fleischfressender Schneemann mitten in einer Pfütze.
»Was machst du hier?«, fragt sie überrascht und Silas Kaiser überlegt nicht zum ersten Mal, ob Welling tatsächlich dermaßen kognitiv limitiert ist, wie es ihre Worte vermuten lassen, oder ob sie diese Fragen stellt, um ihn zu provozieren.
Ganz bewusst. Weil sie schon immer die zweifelhafte Fähigkeit besessen hat, ihn dort zu packen, wo es ihn besonders reizt. In jedem Sinne, spöttelt eine Stimme in seinem Kopf.
»Das, was Menschen auf Friedhöfen machen, solange sie noch nicht tot sind.«
Welling schaut ihn an, als wisse sie nicht, ob sie lachen darf – oder schon wieder kann. Dann schaut sie weg, mustert etwas auf dem Boden, knapp vor ihren Sneakern, die inzwischen völlig durchweicht sein dürften. Die Regentropfen laufen ihr Haar hinab und perlen von den Strähnen in ihr Gesicht.
Einen Moment lang ist er versucht, ihr die Tropfen von der Wange zu wischen, aber Silas Kaiser gibt keinem so niederen Bedürfnis nach. Er ist kein Schwächling, der sich von Emotionalität einwickeln und durch das Leben jagen lässt. Seine Handlungen und seine Entscheidungen unterliegen stets einer Rationalität, auf die er insgeheim unheimlich stolz ist.
Feigling, schnarrt die Stimme.
Er hält einige Schritte vor ihr, gerade weit genug, dass sie im Regen steht und nicht in die Versuchung gerät, sich mit unter den Schirm zu stellen. Er beobachtet, wie ihr Blick über das frisch aufgeschüttete Grab fliegt, als habe sie Angst, das Bild würde sich in ihren Kopf fräsen und sie nie wieder loslassen. Als könne sie die Wirklichkeit austricksen, wenn sie nur nicht zulassen würde, sie als solche anzuerkennen. Dabei ist das belanglos. Er weiß das.
Das Grab seiner Eltern blitzt in seinen Gedanken auf, aber er schiebt die Bilder zur Seite, wie er es schon seit vielen Jahren getan hat; fast sein ganzes Leben lang. Er betrachtet Welling und überlegt, ob sie betet oder einfach nur ins Leere starrt – und ob das überhaupt einen Unterschied macht.
»Ich kann nicht zurück«, murmelt sie irgendwann und das Prasseln des Regens nimmt die Worte mit. »Ich habe das Gefühl, dass er jeden Moment durch die Tür kommt, wenn ich zu Hause bin.«
Aber es kommt niemand. Der Regen trägt die Worte zu ihm, die ausgesprochenen und die ungesagten, und sie pochen in seinen Ohren, weil er sie so oft gespürt hat. Stattdessen wartet man, hofft und wird enttäuscht. Immer und immer wieder. Bis man irgendwann resigniert die Realität annimmt – oder daran zugrunde geht. Er sagt sich, dass es nichts mit Empathie zu tun hat, als er vor seiner Wohnungstür stehen bleibt.