Die Harpyie hatte mich tatsächlich zum Olymp geflogen. Blutüberströmt und blind, nur noch ein Häufchen Elend, kniete ich jetzt vor Zeus, um mich herum die restlichen elf Olympier. Letzteres vermutete ich nur, weil ich schließlich immer noch nichts sehen konnte. Leider heilte mein zerschundener Körper nur langsam. Aber wenn ich richtig lag, war Ares auch hier. Dieses miese Drecksstück hatte mich bestimmt verraten. Ich hatte es von Anfang an gewusst! Wieso hatte ich mich auf ihn einlassen müssen? Wie konnte ich auch nur ansatzweise glauben, ich könnte ihm vertrauen?
"Larea!", erhob mein Vater nun seine Stimme. "Endlich sehen wir uns wieder." Ich hätte auch darauf verzichten können. Schweigend und mit gesenktem Kopf starrte ich weiterhin in die Dunkelheit meiner verletzten Augen. Meine Messer waren mir weggenommen worden und irgendeine unsichtbare Macht hielt mich an Ort und Stelle. Zur Sicherheit hatte mir jemand noch eine von Hephaistos' Handschellen angelegt, aus den noch keiner eine Möglichkeit gefunden hatte, sich zu befreien. Nur der Gott selbst wusste, wie man sie öffnete.
Zeus seufzte, weil ich nichts erwiderte. "Dann zögern wir das Ganze nicht weiter hinaus." Er machte eine dramatische Pause, bevor er begann, all meine Vergehen aufzulisten. "Du hast einen Sterblichen mitten auf dem Time Square vor aller Augen erstochen."
"Das war ein Versehen!", protestierte ich lautstark, aber er brachte mich zum Schweigen: "Schweig still! Neben diesem Sterblichen hast du auch noch einen weiteren umgebracht. Ich nehme mal an, wir sind uns einstimmig einig, dass du, um über deine Taten nachzudenken, ein Jahrzehnt in der sterblichen Welt, ohne deine göttlichen Kräfte verweilen musst."
"Zehn Jahre!", rief ich entsetzt. "Das kannst du nicht mit mir machen!" Am liebsten würde ich ihm jetzt nochmal an die Gurgel springen. "Letztes Mal war es nur ein Jahr gewesen."
"Die Situation hat sich geändert", argumentierte mein Vater stumpf. Jeder hier wusste, warum er die Strafe um so viel erhöht hatte. Nicht etwa, weil ich noch einen Sterblichen getötet hatte. Nein! Weil ich ihn, den großen Herrn Zeus angegriffen hatte und dann auch noch mit Erfolg. Das ging ihm gewaltig gegen den Strich und hatte zutiefst seine Ehre verletzt.
"Das ist unfair!", schrie ich und fluchte leise, weil ich immer noch nichts sah. Am Ende blickte ich nicht mal in Zeus' Richtung, sondern sah ausversehen in Richtung Poseidon oder komplett falsch zu Hermes. Ich wollte keinen der anderen Götter anbrüllen - außer vielleicht Ares -, sie hatten mir nichts getan. Noch stärker versuchte ich, meine Augen mit purer Willenskraft zu heilen, aber es funktionierte nicht. Wahrscheinlich verhinderten Hephaistos Handschellen das meine Wunden heilten, denn auch aus meiner Brust tropfte immer noch goldener Ichor.
"Das kannst du nicht machen!", rief ich in die Richtung, in der ich Zeus vermutete.
"Oh doch, kann ich! Und du hast es nicht anders verdient. Also, wenn niemand mehr etwas dagegen einzuwenden hat..." Er wartete ab und ich drehte blind meinen Kopf in alle Richtung, in der Hoffnung, einer der Olympier würde sich für mich einsetzen, aber keiner sagte etwas. Pure Verzweiflung stieg in mir auf, die ich versuchte, nicht vor den anderen Göttern zu zeigen.
"Gut, dann ist es beschlossen!"
"Nein!", schrie ich und versuchte mich, aus den Fesseln zu befreien, wurde allerdings immer noch von dieser unsichtbaren Macht nach unten gedrückt.
Man hörte ein Donnergrollen. "Ich hoffe, wenn wir uns wiedersehen, hast du gelernt, dass man sich nicht so einfach meinen Befehlen widersetzt." Ich hab mich ihm doch nie widersetzt! Okay, vielleicht hatte ich ihn angegriffen, vielleicht hatte ich ein, zwei Sterbliche umgebracht, was uns Göttern eigentlich verboten war. Na und! Was war schon dabei?! Zehn Jahre auf der Erde, unter Sterblichen? Das überlebte ich nicht! Allein schon, weil ich dann sterben konnte und mich das nächstbeste Monster umbringen wird. Vor allem, wenn ich nicht mal meine Messer mitnehmen konnte. Dann sah ich, trotz meiner nicht funktionierenden Augen ein grelles Licht.
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Ares - Freund oder Feind
Short StoryAuf der Flucht vor ihrem Vater Zeus, begegnet die Göttin Larea zufällig dem Kriegsgott Ares. Sie hat ihn noch nie leiden können, da sie aber von dem ewigen Wegrennen müde ist, nimmt sie sein Angebot an, mit ihm in ein Versteck vor Zeus zu gehen. Tro...