Kapitel 2 - 08:20 Uhr

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5 Stunden und 25 Minuten bis zur Katastrophe

Der Geruch des Büros unserer Direktorin war merkwürdig. Aber auch die ganze Atmosphäre war das komplette Gegenteil von dem, wie ich sie das letzte Mal erlebt hatte.
Meine gefalteten Hände hatte ich entspannt auf meinem Schoß platziert, um meine Unsicherheit zu überspielen, doch mit jedem weiteren Mal, mit dem die Sekretärin durch die Tür ins Büro lugte, wurde mir die Anspannung an dem heutigen Morgen bewusst. Die Laune war heruntergekommen, obwohl nicht einmal die Mittagspause erreicht war. Es waren schon 20 Minuten des Unterrichts vergangen, als mich Frau Martin zur Schulleitung schickte, da sie es schon fast wieder vergessen hatte. Mittlerweile schickte sie mich nur noch dort hin, um zu zeigen, wer die Macht hatte. Ihr war wahrscheinlich schon egal, ob ich überhaupt eine Strafe bekam. 
„Ist Frau Pohlmann immer noch nicht da?", holte mich die sonst so freundliche und hilfsbereite Frau genervt aus den Gedanken. Ich konnte nichts anderes als irritiert mit meinem Kopf zu schütteln.
Auch die anderen Mitarbeiter, inklusive Lehrer, huschten eilig an der offen stehenden Tür vorbei. Sie waren alle samt in einer ungewohnten Eile. Diese Ablenkung funktionierte einwandfrei, bis nur noch vereinzelt Schüler nachrückten, die zu spät kamen. Ich wandte meinen Blick ab und entdeckte schlussendlich das Chaos, was in diesem Zimmer herrschte. Die Regale, die vor einigen Wochen hauptsächlich mit Wörterbüchern und Nachschlagewerken gefüllt waren, waren ausgeräumt und auch die edlen, aber nicht gerade vorzüglichen Kunstwerke waren abgehängt und durch Kinderbilder ersetzt. Jetzt konnte man annehmen, dass unsere Schulleiterin ziemlich viel Wert auf die Kunst ihrer Kinder legte. Doof nur, dass sie gar keine hatte. Dieses Insiderwissen machten meine häufigen Besuche aus, die jedes Mal aufs neue zum selben führten. Nämlich zu nichts.
Die Sekretärin rollte ihre Augen. Ich erwischte sie, wie sie suchend umher und sich die letzten Sachen schnappen wollte. 
„Frau Norvell, bitte lassen Sie uns doch einen Moment alleine und widmen Sie sich Ihrer Arbeit. Und Tür zu, nicht vergessen!", begrüßte mich die herzliche und warme Stimme unserer Schulleiterin. Erst als Frau Norvell hinter der Tür verschwunden war, ließ sie sich auf ihren alten Sessel fallen. „Ah, Norahlee. Ich hätte keinen anderen erwartet" 
Ich lachte verunsichert, aber sie interessierte sich kaum für meine Wenigkeit. Stattdessen schwebten ihre Finger über ihrer Tastatur. Sie hatte immer was besseres zu tun. 
„Tut mir Leid, dass ich etwas zu spät gekommen bin, aber normalerweise empfange ich so früh keine Schüler", meinte sie. „Ich nehme mal stark an, dass dich Frau Martin geschickt hat"
„Richtig", seufzte ich, „Wer sonst?"
„Zum wievielten Mal bist du eigentlich schon hier?" 
„Ich habe aufgehört zu zählen", meinte ich, obwohl ich wusste, dass es sich um eine rhetorische Frage handelte. 
„Vielleicht sollte ich mal mit ihr reden. Ich schätze sie würde dir auch selbst eine Standpauke halten, wenn sie taff genug wäre", lachte die Direktorin. Auch ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen, doch sie konnte schneller wieder ernst werden. Ich nicht. 
„Wir sollten uns beeilen. Du verpasst viel zu viel vom Unterricht, wenn du dich hier immer blicken lässt. Das nächste Mal erwarte ich von dir, dass du dich gegen Frau Martin Entscheidung sträubst. Schließlich geht das so nicht mehr weiter"
„Ernsthaft?", fragte ich, mehr entsetzt, als überrascht. Sie ging nicht auf mich ein, sondern fragte mich nur, warum ich da wäre.
„Ich habe den Bus fast verpasst", gab ich kleinlaut zu. 
„Aber du bist doch hier, nicht so wie am Montag", stellte die Frau fest. Ich nickte zur Bestätigung. 
„Sie meinte, ich sollte mir mehr Zeit für die Schule nehmen und ich habe ihr gesagt, dass ich es auf Grund unserer Lage zu Hause nicht kann"
Die Schulleiterin schaute gespannt auf den Bildschirm. „Du hast sie angeschrien?"
„Nein. Indirekt. Okay, ein bisschen. Ich habe mich aufgeregt. Es war nicht richtig. Aber ich bitte Sie, wir haben eine schwere Zeit zu Hause", flehte ich, was lediglich gespielt war. Ich kümmerte mich nicht um mein zu Hause, zu mindestens nicht so sehr, wie ich es vorgab. Meine Mutter hatte die volle Verantwortung und wollte diese auch, das musste Frau Pohlmann aber nicht wissen. Mit der Zeit hatte ich heraus gefunden, wie man sie um den Finger wickelte. 
„Hattest du schon mal erwähnt", murmelte sie gelangweilt. „Ich weiß nicht, was ich jetzt mit dir hier anfangen soll. Ich würde sagen, dass du jetzt zurück in den Unterricht gehst, sonst kriegst du den Anfang der zweiten Stunde auch nicht mit. Ich habe dich etwas zu lange Warten lassen"
Ich war so stürmisch, sodass ich bald den Stuhl beim Aufstehen umgestoßen hätte. Es klopfte an der Tür.
„Ja bitte?"
Frau Novell trat ein. Hinter ihr tauchte ein Junge auf.
„Ah, Frau Novell. Sie können jetzt gerne mit Ihrer Arbeit in meinem Büro fortfahren, wir sind fertig", sagte die Direktorin, stand auf und wirkte so, als hätte sie es eilig.
„Ich schätze, Sie müssen sich mit dem nächsten Schüler ärgern. Die restlichen Bücher sind nicht allzu wichtig", sagte die Sekretärin. In dem Moment trafen sich unsere Blicke. Ich wendete meine Augen sofort auf den Boden.
„Norahlee, ich sagte, dass du wieder zurück in die Klasse darfst", erinnerte mich die Schulleiterin mit strenger Stimme. 
„Äh, sicher", stotterte ich und eilte mit schnellem Schritt aus dem Gebäude. Für einige Sekunden blieb ich mitten auf dem Hof stehen und atmete verwirrt die kalte Luft ein. Dann entschied ich mich dafür, mich zu beeilen und rannte fast über den Schulhof. Ich versagte aber, dank meiner nicht vorhandenen Konditionen. In diesem Moment ärgerte ich mich wieder mehr über mein Versagen, was Sport anging, als alles andere, um was ich mich kümmern sollte.
Mir kamen Massen von Schülern entgegen, aber auch hier konnte man die unruhige Stimmung förmlich spüren. Es duftete schon jetzt herrlich nach frisch gebackenen Waffeln, was bedeutete, dass der Schulalltag auf Hochtouren lief. Schließlich mussten die Abschlussklassen irgendwie an Geld kommen, um ihre Abschlussfahrten und Ausflüge finanzieren. Unsere Schule hatte für solche Zwecke angeblich zu wenig Geld.
Ich ignorierte alle Blicke und hetzte die Treppe hinauf, weichte gekonnt allen entgegenkommenden Lehrern aus und blieb letztendlich mit schweren Atem in der Tür zum Klassenzimmer stehen. 
Sobald Allison mich entdeckte, sprang sie von ihrem Sitzplatz auf und kam mit einem Lachen im Gesicht auf mich zu. 
„Und?", fragte sie gespannt, als ob mir was spannendes im Büro der Schuldirektorin passiert hätte können.
„Nichts", sagte ich gelangweilt, „Sie weiß nicht, wie sich mich bestrafen soll. Alles ist eine mindere Bestrafung, als in den Unterricht gehen zu müssen"
„Ach, Norahlee. So schlimm ist das doch alles gar nicht", versuchte sie mich auf zu muntern. „Denk daran wofür du das machst"
Ich brummte. „Das ist es ja, ich mache es ja nichts für. Ich weiß nicht was morgen kommt, ich kann die Zukunft nicht planen, solange ich im Moment jeden Tag versuche zu überleben. Ich sehe meine Familie kaum, ich habe nur Probleme hier in der Schule, wo soll das denn noch drauf hinauslaufen?"
Sie schenkte mir ein Lächeln, anders konnte sie nicht antworten. Sie wusste, dass man mich nicht umstimmen konnte. Man konnte nur hoffen, dass ich einen schlechten Tag hatte. Nur leider hatte ich davon viele. Das wusste meine beste Freundin auch. Sie gab mich nicht auf.
„Es wird irgendwann alles besser", sagte sie überzeugt. Das war ihr Lebensmotto, wie das von unserem Lehrer, der in diesem Moment den Raum betrat.
Ich begab mich mit Allison im Schlepptau auf unsere Sitzplätze. Unsere restlichen Mitschüler ließen wie gewohnt auf sich warten und sprangen mit vollem Elan über Tische und Stühle, die anderen schminkten sich, um auch beim Lernen gut auszusehen. Dann erst fiel es mir auf. Auch hier waren aus allen Regalen die Bücher herausgenommen und die gesamte Fotowand war von dem einen auf den anderen Tag komplett verschwunden.

Norah - Fallende HoffnungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt