II

9 2 0
                                    

Gelangweilt – doch gleichsam fasziniert – beobachtete Kyle das imposante Tier, welches gemächlich die Manege entlang trottete. Es handelte sich um einen stattlichen Löwen, einem wahren König des Tierreiches. Sein helles Fell glänzte im Licht der Strahler, seine Mähne war voll und lang, in einem dunklen orange, welches mehr einem Rot glich. Und der Körper... unglaublich kräftig und muskulös. Doch dieser Löwe hob sich deutlich von anderen seiner Art ab. Aus seinem Rücken ragten zwei riesige, fledermausartige Flügel, kräftig genug diesen massiven Leib in die Lüfte zu erheben. Sein Gesicht hatte ungewöhnlich menschliche Züge und anstatt des Schweifes eines Löwen hatte er drei eines Skorpions. Angeblich ein Mantikor. Ein Fake, wenn es nach Kyle ging, der die Begeisterung der Menge – und seines Freundes – für naiv und gelinde gesagt... einfältig hielt. Ihn konnten die hier nicht täuschen. Es war immerhin eindeutig, dass die Flügel und die Schwänze lediglich von Gurten an dem Körper gehalten wurden. Und dass das Tier fliegen konnte? Eine Konstruktion, die ihn in die Höhe hob. Vermutlich war oben, in der Dunkelheit des Zeltes verborgen, ein mechanisches Gestell, welches über die Stahlträger fuhr.

Ein junger Mann betrat die Manege. Er war auf eine gewisse Art charismatisch und zog sofort sämtliche Blicke auf sich. Hinter sich konnte Kyle ein paar Mädchen tuscheln und kichern hören und er verstand sie nur zu gut. Dieser junge Mann war schlank, unter seinem dunklen Frack zeichnete sich deutlich sein durchtrainierter Körper ab, sein Haar war fast weiß und fiel ihm offen über die Schultern. Unter dem Frack trug er lediglich ein Tanktop und eine zerschlissene Jeans, was das Elegante an dem Outfit auf charmante Weise durchbrach. Nun, der junge Mann ließ seinen Blick durch die Menge schweifen und für einen Augenblick glaubte Kyle, ihre Blicke würden sich treffen. Sekunden vergingen, ehe sich der Darsteller von ihm und dem Publikum abwandte und sich dem angeblichen Mantikor zuwendete. Dieser hatte sich inzwischen hingesetzt und putzte sich entspannt.

Als der junge Mann nun eine Peitsche aus seinem Gürtel zog, erhob sich der Mantikor wieder und wartete auf seine Befehle. Auf routinierte Art und Weise, ließ sich das Tier dazu herab Kunststücke zu vollführen – angefangen damit, dass es langweilig durch einen brennenden Reifen sprang, bis hin zu einem Flugmanöver, der die Menge um den Atem beraubte. Doch Kyle achtete nicht mehr auf das Tier. Ihm war egal, mit welchen Tricks die Leute hier arbeiteten, aber er konnte sich nicht von diesem jungen Mann lösen. Und als würde dieser seine Blicke spüren, schaute auch er ab und an zu ihm hoch. Nach einer Weile trat der Zirkusdirektor applaudierend in die Manege.

„Nun meine Damen und Herren, das waren Lyca und sein Mantikor Kastan. Einen Applaus für die Beiden."

Die Menge johlte und pfiff und Oliver klatschte so heftig in die Hände, dass sich Kyle ernsthaft fragte, ob er am Ende des Abends überhaupt noch die Hände bewegen können werde. Er bezweifelte es dezent. Lyca jedenfalls verbeugte sich und verließ die Manege. Als er bei den Vorhängen ankam, hinter denen die anderen Schausteller bereits auf ihre Auftritte warteten, hielt er jedoch noch einen Moment inne und schaute über die Schulter hoch zu Kyle.

Komm nach der Show zum Mantikorgehege.

Kyle erstarrte. Es war wie eine kalte Hand, die sich um sein Herz schlang und ihm den Atem raubte. Hatte er das gerade wirklich gehört? War das wirklich Lycas Stimme gewesen? In SEINEM Kopf? Nein, das konnte nicht möglich sein. So etwas gab es in Kyles Welt nicht, vermutlich hatte er sich das eingebildet, weil er den Jungen so niedlich fand. Dieser Gedanke beruhigte ihn auf eine gewisse Art – zumindest bis er sah, wie Lyca offensichtlich die Augen verdrehte und kopfschüttelnd hinter dem Vorhang verschwand.

„Hey, alles okay bei dir?", fragte Oliver. „Du bist so blass. Hat dich der Mantikor etwa doch aus den Socken gehauen?"

„Schwachsinn", murmelte Kyle und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Manege, wo gerade eine Frau auftauchte. Sie trug eine bodenlange Robe, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, sodass man lediglich ihre roten Haare sehen konnte. „Eine Hexe... wie einfallsreich"

*

„Lyca!"

Der Zirkusdirektor packte den junge Mann grob am Oberarm und riss ihn zu sich herum. Dafür, dass er so hager war, war er kräftiger als erwartet – das vergaß Lyca gerne.

„Was ist?", sagte dieser und versuchte so gelangweilt wie möglich zu klingen. „Hast du ein Problem mit meiner Show? War sie nicht zu deiner Zufriedenheit, Claudante?"

„Du weißt genau was ich will", raunte der Direktor und ließ ihn los. „Was zur Hölle sollte das? Du weißt ganz genau, dass du solche Mätzchen nicht auf der Manege machen sollst. Es hätte jemand bemerken können."

„Niemand hat etwas gemerkt", seufzte der Andere. „Die Menschen sind viel zu dumm, um zu merken, was um sie herum passiert."

„Da muss ich dem Jungen recht geben."

In dem Wassertank hinter ihnen schwebte eine bildschöne Frau. Ihre Haut schimmerte wie Perlmutt und ihre Haare tanzten im Wasser. Am Hals hatte sie Kiemen und anstatt Beine eine lange, mit violetten Schuppen besetzte, Flosse. Sie schien gelangweilt zu sein und nur auf ihren Auftritt zu warten, doch der Streit der beiden hatte ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Nun bedachte sie die Männer mit einem bösartigem Lächeln, welches Lyca jedes Mal das Blut in den Adern gefrieren ließ.

„Menschen sind Narren und sehen nur, was sie sehen wollen", fuhr sie mit ihrer zarten Stimme fort, ohne die Lippen zu bewegen. Ihre Stimme war nur in den Köpfen der Männer und das reichte aus, um sie daran zu hindern sie zu unterbrechen. „Und du sagtest doch... dieses Mal ist Lyca an der Reihe. Dieses Mal, sucht er jemanden aus. Und wenn er sich für diesen Jungen entschieden hat, sollten wir ihn einfach gewähren lassen."

Langsam und nicht ohne eine gewisse Anstrengung, entzog sich Claudante ihrem Bann und wandte sich brummend ab. Er wagte nicht zu widersprechen. Der Auftritt der Hexe war sowieso bald vorbei und er musste sehen, ob die Nachtmare bereits fertig waren. Lyca sah ihm nach und wandte sich dann an die Sirene.

„Danke", sagte er tonlos. „Aber bitte, Syriel, mach das nie wieder."

„Ich gebe mir Mühe, mein Lieber."

Mein Beitrag zum Ideenzauber 2020Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt