III

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Nach dem die Hexe die Manege verlassen hatte, wurde es allmählich dunkler. Weißer Nebel kroch über den sandigen Boden, es wurde ruhig, der Applaus ließ allmählich nach und als sich Kyle umsah, wirkte das Publikum müde und dösig. Dennoch schien jeder seine Augen direkt auf die Manege gerichtet zu haben, wo nun zwei Gestalten auftraten. Es waren Frauen, wenigstens klang es danach. Kyle fühlte sich etwas unwohl, ihm wurde kalt und er hatte Mühe nicht einfach aufzuspringen und das Zelt zu verlassen – Oliver hingegen schaute mit einem seligen Lächeln auf den Lippen starr nach vorne und summte leise das Lied mit, welches die beiden Frauen beim Betreten der Manege angestimmt hatten.

Es waren so sanfte Klänge, die andere vermutlich als den Gesang von Engeln beschrieben hätten. Doch in Kyle lösten sie pure Angst aus, ohne dass er diese näher bestimmen konnte. Und je näher diese Gestalten dem Zentrum der Manege kamen, desto klarer wurden ihre grotesken Umrisse. Die krummen Körper und langen dürren Finger, die ihn an borkige Äste erinnerten. Ihre Haare waren dünn und strähnig und die Kleider hingen schlaff an ihren ausgemergelten Leibern herab.

„Sind sie nicht wunderschön?", murmelte Oliver neben ihm. Kyle schaute ihn verstört an und fragte sich, ob das gerade sein Ernst war. „Wie Engel... So zauberhaft..."

Unsicher schaute sich der Junge um und musste sich darüber bewusst werden, dass sein Freund scheinbar nicht als Einziger eine totale Vollmeise hatte. Jeder hier himmelte diese Kreaturen an. Wollten die ihn verarschen? Dann wurde es ihm schlagartig klar: Der Nebel. Vermutlich lag es am Nebel, der sich nach und nach über die Ränge verbreitete. Womöglich hatten sie etwas hineingemischt und alle hier standen unter dem Einfluss einer Droge. Warum er dann als Einziger diese grotesken Gestalten sah? Natürlich, beruhigte er sich, er hatte schon zuvor eine negative Einstellung zu dem Zirkus gehabt und wollte gar nicht hier sein. Das musste seine Wahrnehmung beeinflussen. Inzwischen waren seine Handflächen Schweiß benetzt, sein Herz raste und er bekam kaum Luft. Egal wie sehr er sich versuchte einzureden, dass das alles eine logische Erklärung hatte, wollte die Panik ihn nicht loslassen und drohte ihn stattdessen zu übermannen.

Und da unten standen diese missgestalteten Frauen und sangen. Sangen für die Menschen, die ihnen verfallen waren. Kyle verkrampfte sich und schloss die Augen, um durchzuatmen. Dabei sah er nicht, wie die beiden Frauen nun abrupt in seine Richtung sahen und ihn unter all den Zuschauern sofort erblickten. Es war seine Angst gewesen, die ihnen bis runter in die Manege entgegenschlug und ihren Hunger anregte. Sie wollten ihn. Gierten nach ihm. Langsam schlurften sie vorwärts. Dicke Speichelfäden trieften aus ihren Mäulern. In den leeren Höhlen, in denen ihre Augen hätten sein sollen, leuchteten rote Flecken auf und als Kyle die Augen aufschlug, stand eine von ihnen bereits auf der Treppe nach oben – nur wenige Meter von ihm entfernt. Sein Herz hörte für einige Sekunden auf zu schlagen.

„Sitz hier nicht rum, komm schon!"

Jemand packte ihn von hinten und riss ihn hoch auf die Füße. Sein Verstand war völlig betäubt, sodass er sich einfach mitziehen ließ, vorbei an den Zuschauern, die nicht einmal mitbekamen, wie er sich panisch an ihnen vorbei drückte. Dann hoch zum Ausgang und raus in die Nacht. Erst als er an der frischen Luft war, kam wieder Klarheit über ihn und er erkannte diesen Lyca, der seine Hand hielt und ihn mit sich zog. Weiter auf das Gelände, weg vom Wald, den sie vorhin hatten durchqueren müssen, um zu dem Zirkus zu gelangen. Bis sie schließlich vor einen weiteren Zelt stehen blieben, mit der Aufschrift: Mantikorgehege. Lyca ließ seine Hand los und sah ihm dabei zu, wie er zitternd auf die Knie sank.

„Was war das?", keuchte Kyle.

„Nachtmahre", erwiderte Lyca. „Es kommt selten vor, dass ein Zuschauer ihre wahre Gestalt sehen kann. Normalerweise sehen alle wunderschöne Sängerinnen – angepasst an ihre Fantasie von Elfen und Feen. Sie hören ihre Lieder und sind beeindruckt."

Mein Beitrag zum Ideenzauber 2020Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt