TEIL 1 - HALBBLUT

5.3K 377 345
                                    

Im abgesperrten Westflügel der kalidurischen Zitadelle steht ein nervös dreinblickender junger Mann vor einer Tür. Er zieht die Hand, die er bereits auf den Knauf gelegt hat, noch einmal zurück und atmet zittrig ein. Für die Dauer eines Herzschlags schließt er die Augen und als er sie wieder öffnet, blitzt aus ihnen eine grimmige Entschlossenheit. Er strafft die Schultern, umgreift den Türknauf so fest, dass seine Knöchel weiß hervortreten – und öffnet die Tür.

Das Zimmer ist trostlos. Abgesehen von einem Bett und einem Tisch mit vier Stühlen gibt es nichts, was diesem Raum einen Charakter verleihen würde. Das Fenster ist vergittert und obwohl es offen steht, ist die Luft abgestanden. Die Sonne versteckt sich hinter einer Wolkenwand, sodass der Raum in ein helles, kühles Licht getaucht ist.

»Ihr seid also der neue Vorleser, um den ich gar nicht gebeten habe«, murrt der Patient, der, auf einem der Stühle sitzend, mit einem kleinen Gegenstand in seinen Händen spielt.

Er hat nicht einmal aufgesehen, als sich die Tür öffnete, und er tut es auch jetzt nicht. Sein kahlgeschorener Kopf, die eingefallenen Wangen und das lange weiße Nachthemd lassen ihn aussehen wie einen alten, verbitterten Greis, obwohl er kaum älter als Mitte zwanzig ist. Sein Anblick erschüttert den Besucher, aber er gibt sein Bestes, es sich nicht anmerken zu lassen.

»So etwas in der Art«, sagt er, schließt sachte die Tür hinter sich und tritt näher. Dabei erhascht er einen Blick auf den Gegenstand, den der Patient unentwegt in seinen Händen knetet. Es ist ein ledernes Armband, in das ein weißlicher Kristall eingewoben ist.

»Dann könnt Ihr Euch gleich wieder verziehen, denn ich habe keine Lust, mir noch mehr Märchen, Chroniken und Gedichte anzuhören.« Die Worte des Patienten klingen so scharf wie ein Messer.

Der Besucher bleibt überrascht stehen und braucht einen Moment, um sich zu fangen. »Man sagte mir, der Kontakt zur Außenwelt sei ein wichtiger Bestandteil der Therapie und dass die Geschichten Euch womöglich dabei helfen, Euch wieder an etwas aus Eurer Vergangenheit zu erinnern.«

»Dann habt Ihr sicher auch gehört, dass ich Eure Vorgängerin fortgeschickt habe, weil es nicht so funktioniert hat, wie die Mediziner es sich erhofften. Ich erinnere mich ja doch bloß an die Geschichten, nicht aber an mein Leben außerhalb dieses Raumes. Wieso seid Ihr der Annahme, es besser zu machen?«

»Weil ich Euch nichts vorlesen werde. Die Geschichte, die ich für Euch habe, steht nirgends geschrieben und sie wurde auch noch nie erzählt.«

»Und wie zum Henker soll eine vollkommen unbekannte Erzählung dazu beitragen, meine Erinnerungen wieder zum Leben zu bringen?!«, bricht es aus dem Patienten heraus.

»Indem sie die Ereignisse der letzten zehn Jahre behandelt, und zwar bis zu dem Zeitpunkt, an dem man Euch hier einlieferte. Vielleicht wird das Eurem Gedächtnis auf die Sprünge helfen, vielleicht auch nicht, aber zumindest werde ich Euch nicht langweilen.«

Das sichert ihm nun doch die Aufmerksamkeit des Patienten. Dieser lässt von dem Gegenstand ab und mustert sein Gegenüber zum ersten Mal. Dabei erschrickt er, denn im fahlen Licht wirken die grauen Augen des Besuchers so kompromisslos wie ein herannahender Sturm. Eine feine, silbrige Narbe zieht sich entlang seines Wangenknochens. Vielleicht liegt es an seiner stattlichen Größe oder an seiner stolzen, aufrechten Haltung, aber seine Ausstrahlung ist wahrhaft einschüchternd. »Wie lautet Euer Name?«

»Ares. Und Eurer?«

»Teban.« Der kahle Mann kneift die Augen zusammen. »Gehört Ihr auch zu den Medizinern?«

»Was? Oh, Ihr meint wegen des Kittels?« Zu Tebans Überraschung beginnt Ares zu lachen. Es ist ein freundliches, warmes Geräusch, das völlig im Gegensatz zu seiner Erscheinung steht. Teban gefällt es, weil es nicht so steril und aufgesetzt wirkt wie der Rest seiner Umgebung.

Der Halbe Schwur [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt