Den nächsten Tag verbrachte Firaya auf dem Fluss. Der Empfang im Kreml hatte sie mehr aufgewühlt, als sie erwartet hatte. Es war eine Sache, ihre Identität für einen Abend abzulegen, um als Nachtigall Einbrüche zu begehen, aber eine völlig andere, sich willentlich auf das zu reduzieren, was die meisten Zhanka sowieso in ihr sahen: eine namenlose Fremdländerin, eine dreckige Pferdefresserin, kaum besser als Lastvieh. Wie sie die Augen demütig gesenkt gehalten hatte, wie die Sperber über sie hinweggesehen hatten, wie sie ihren Akzent dick und schwerfällig auf ihre Zunge geträufelt hatte – all das kratzte mehr als die Perücke, die sie der Gardistin als Pfand zurückgelassen hatte.
Während ihre Gedanken rastlos schäumten, blieb die Istra um sie herum ruhig und ungerührt. Der Fluss strömte durch Istradar, ohne sich um politische Intrigen und persönliche Konflikte zu kümmern. Am liebsten wäre Firaya allein in ihrem Einbaum über das dunkle Wasser geglitten, aber wenn sie gerade nicht als Nachtigall unterwegs war, verdiente sie sich ihr Geld als Fährfrau. Im Sommer drängten sich die Schiffe im Hafen und die Menschen, die sich den Weg über die einzige Brücke nicht leisten konnten, standen Schlange, um mit den Fähren zwischen der Stadt und dem Kreml überzusetzen. So verbrachte Firaya den Tag damit, Händler und Besucher in ihrem breiten Floß über den Fluss zu bringen. Zumindest musste sie dabei nicht viel reden. Das vertraute Rauschen des Flusses glättete die Wogen in ihrer Brust.
Abends nahm sie auf dem Weg zur Tarak-Hütte einen Umweg über den Markt und kaufte eine frisch gebackene Honigschnecke. Sie atmete den süßen Duft ein, der sich bis in ihre Zehen zu ziehen schien, und wickelte das Gebäck dann sorgfältig in ein sauberes Tuch, damit der Honig nicht an ihren Fingern kleben blieb.
Um sie herum nahm die Strömung des Stadtlebens langsam ab. Die Straßen leerten sich, als die Bauern mit ihren Karren wieder auf ihre Höfe außerhalb der Stadt zurückfuhren und die Handwerker und Kaufleute zu ihren Familien heimkehrten. Die Abenddämmerung war Firayas liebste Tageszeit – in den blauen Stunden vor Anbruch der Nacht schien alles möglich.
In der Tarak-Hütte fing das Leben gerade erst an. Die ersten Gäste saßen bereits im Schankraum und löffelten ihren Lammeintopf oder tranken Bier. Durch die Tür zur Küche sah Firaya Timurs breite Schultern, der gerade in einem großen Kessel rührte und ihr bloß kurz zunickte. Janka stand am Ausschank, nicht zu übersehen mit ihrer hellen Zhan-Haut. Obwohl das Mädchen erst seit zwei Monaten für Timur arbeitete, zapfte sie mit einer solchen Selbstverständlichkeit Bier, als hätte sie noch nie etwas anderes gemacht. Als sie Firaya sah, winkte sie ihr hektisch zu.
„Oh, da bist du ja!" Einzelne braune Locken lugten unter Jankas Kopftuch hervor und ließen ihr kantiges Gesicht weicher erscheinen. Sorge schimmerte in ihren großen grünen Augen, als sie sich über den Tresen beugte. „Ein Sperber sucht dich", flüsterte sie. „Sie hat nach dir gefragt und ich hab gesagt, ich kenne dich nicht, aber sie hat mit den Fährleuten gesprochen und die haben ihr Timurs Namen genannt und er musste sie reinlassen –"
Firaya hatte Jankas Redeschwall geduldig abgewartet, während sich in ihrem Magen ein Knoten immer fester zuzuziehen schien, aber nun unterbrach sie das Mädchen.
„Reinlassen? Sie ist hier?"
„Ja, oben, in deinem Zimmer." Janka biss sich auf die Unterlippe und sah zu Boden. „Es tut mir leid. Ich wollte sie da nicht allein lassen, aber sie hat mich rausgeworfen ..."
Firaya legte eine Hand auf Jankas Schulter und das Mädchen verstummte.
„Du musst dich nicht entschuldigen. Danke für die Warnung." Sie reichte Janka die Honigschnecke. „Iss sie, solange sie noch warm ist."
Jankas dankbares Lächeln begleitete sie auf dem Weg durch den Schankraum zur Wendeltreppe auf der anderen Seite. Die Ruhe, die der Tag auf dem Fluss und das vertraute Gewicht des Abends in ihr hinterlassen hatten, war wie weggespült. Vielleicht waren ihr die Sperber gestern doch unbemerkt gefolgt, vielleicht hatten sie von Firayas Plänen erfahren – oder aber sie waren hinter den Nachtigallen her. Keine dieser Möglichkeiten ließ ihre Zukunft rosig erscheinen.
An der Treppe zögerte sie. Noch konnte sie umdrehen und weglaufen, untertauchen, die Stadt verlassen. Aber nach all den Jahren, die sie in Istradar ums Überleben gekämpft hatte, konnte sie sich nicht vorstellen, ihr Leben hier einfach so aufzugeben. Und wer würde ihren Auftrag zu Ende bringen, wenn sie die Flucht ergriff?
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Der Feuervogel von Istradar
FantasyZwei Frauen auf der Suche nach einem gestohlenen Wunder ... Als Firaya beim Einbruch in die Festung von Istradar erwischt wird, rechnet sie mit dem sicheren Tod. Doch anstatt sie zu verhaften, schlägt die Gardistin Alina ihr einen Handel vor: Sie lä...