Prolog

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Den Feuervogel von Istradar zu sehen bedeutete, Wunder und Wahn zu riskieren. Zahllose Geschichten warnten davor, sich ihm zu nähern – und ebenso viele schilderten die Reichtümer und Zauberwerke, mit denen derjenige belohnt wurde, der eine seiner Federn gewann. Vor zweihundert Jahren hatte der Großfürst von Istradar der Gefahr ein Ende bereitet und das Wundertier im Fluss ertränkt. Doch ein Fragment seiner Macht lebte weiter.

„Keine Angst, meine werten Gäste. Euer Verstand ist nicht in Gefahr."

Großfürstin Oksana lächelte. Sie war so schön wie ein Heiligenbild und ebenso unnahbar. Die Fürsten und Fürstinnen, die aus ganz Istradar zum Empfang in den Kreml geströmt waren, hingen an jedem ihrer Worte. Einzig Fürst Vadim, der Abgesandte aus Radagrad und damit der wichtigste Gast des Tages, wandte seinen Blick nicht vom verhüllten Podest hinter der Großfürstin ab.

„Seit zwei Jahrhunderten hat niemand diesen Schatz zu Gesicht bekommen", sagte sie. Ihre seidige Stimme trug mit Leichtigkeit durch den blühenden Innenhof, in dem sich alle versammelt hatten. „Doch heute, zu Ehren der neuen Allianz zwischen Istradar und Radagrad, will ich ihn mit euch teilen – das letzte Wunder der Welt, der Feuervogel von Istradar!"

Eigenhändig riss sie das samtene Tuch vom Podest.

Der kostbare Vogel hockte auf einer Stange, als könnte er sich jeden Moment in die Lüfte erheben. Die lebensgroße Sperberstatue war mit Gold, Diamanten, Saphiren und Onyxsteinen verziert. Der Sonnenschein fing sich in den sorgsam eingefassten Edelsteinen und ließ den Rubin auf der Stirn des Sperbers wie eine Flamme lodern.

Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Gäste. Alle streckten sich in die Höhe, um einen Blick auf den Schatz des Großfürstentums zu erhaschen. Doch nur Fürst Vadim durfte zwischen den Wachen hindurchgehen und sich die Statue aus der Nähe ansehen. Ein seltsames Lächeln spielte über sein Gesicht.

„Juwelen und falsche Federn", sagte er leise. „Ist das alles, was vom mächtigsten Wundertier des Landes übrig geblieben ist?"

„Oleg der Große warf den Kadaver in die Istra, um die Menschen für alle Zeiten vor der mörderischen Raserei zu schützen, in die sie wegen des Feuervogels verfielen", erklärte Oksana. „Aber sein Blut fiel auf diesen Rubin. Ist er nicht wundervoll? Ein angemessenes Pfand unserer Allianz, wie es der Zar wünschte."

Vadim sagte nichts. Um das Podest herum verneigten sich die anderen Gäste vor der Statue und dem blutbefleckten Rubin. Keiner versuchte auch nur, sich ihm zu nähern. Oksana hielt nichts von alten Geschichten und Aberglauben, doch die versammelten Fürsten und Fürstinnen wollten nichts riskieren. Wer wusste schon, ob der Wahnsinn des Feuervogels nicht doch im Rubin überdauerte? Sein satter Glanz hatte etwas Lebendiges an sich.

Die Diebin stand unbemerkt zwischen den hohen Gästen und betrachtete ebenso wie sie das, was vom Wundertier übrig geblieben war. Sie verstand die Angst dieser Menschen vor der Macht eines wahren Wunders. Aber je länger sie diesen Rubin ansah, desto mehr kam sie zu dem Schluss, dass ihn niemand fürchten musste.

Er war wunderschön. Aber er war eine Fälschung. 

Der Feuervogel von IstradarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt