Zwischen Glück und Pech

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Was, wenn doch?, rief es ununterbrochen in ihm, während er ihr auf der Straße hinterherlief. Was, wenn es stimmt? Sein Herz überschlug sich, als ginge es um Tod und Leben. Bei Alya und Nino hatte es auch funktioniert. Außerdem traute er es Hawk Moth zu. Die Miraculous hatten viel Macht. Zu viel. Sie öffneten so viele Türen zu Phänomenen, die er sich niemals hätte vorstellen können. Ihre Kräfte waren schon unglaublich genug, aber was, wenn die Miraculous sogar so etwas konnten? Liebe sehen. Er hatte einfach das Gefühl, das es stimmte. Klar, es gäbe genug Gründe, wieso Mayura oder Hawk Moth lügen würden, aber alle anderen Superschurken bekamen auch die Fähigkeiten, die ihren Wünschen entsprachen. Es musste so sein! Würde Glaciator sie beide in die Finger kriegen, würde das ein unwiderrufliches Erlebnis sein. Eines, das sein ganzes Leben verändern konnte. Sie würden erfahren, ob sie füreinander geschaffen waren oder nicht. Punkt. Er würde es erfahren. Natürlich würde er niemals sicher sein können, überall gab es Ausnahmen und Täuschungen. Aber vielleicht würde es trotzdem seine Einstellung beeinflussen. Würde es? Sie bohrte sich wie ein Dorn in sein Herz, diese Angst, diese Vorstellung. Die Vorstellung, vor Augen gesetzt zu bekommen, dass sie nicht seine wahre Liebe war. Es würde sein Leben unerträglich machen. Und trotzdem würde er nie aufhören, sie zu lieben, das stand fest. Niemals. Das konnte er nicht. Wie würde er weiterleben können, mit dem Wissen, dass es alles Einbildung war? Anderseits ... würde Glaciator sich dazu entschließen, sie als keine Liebe festzulegen, würde er eh nicht mehr weiterleben müssen. Sie auch nicht. Es würde das Ende bedeuten, denn er vermutete, dass man als unechtes Liebespaar nicht mit grünen, sondern mit roten Kugeln beschossen wird, die einem sicherlich nicht zum Genuss dienten, sondern zur Vernichtung. Wahrscheinlich würden sie als Eisstatuen enden. Das durfte er nicht riskieren, um keinen Preis. Er konnte nicht zulassen, dass Ladybug so verendet. Er durfte nicht. Da spielte auch seine Neugier keine Rolle, was Glaciator zu ihnen als Paar halten würde. Womöglich war es eh nur Zufall. Er würde sie beide von diesem Portionierer fernhalten, koste es, was es wolle. Selbst, wenn es seine ersehnte Bestätigung zur Liebe kostete. Er würde sie eben nie bekommen. Wahrscheinlich ersparte er sich ja auch keine Bestätigung, sondern einfach bloß eine Ablehnung. Eine Enttäuschung. Es war besser so. 

"Was wollen wir jetzt machen?", fragte Ladybug traurig. Warum sie traurig war, wusste sie selbst nicht. Vielleicht war es bloß wieder eine Stimmungsschwankung, passend zu dem Himmel, der schon allmählich dämmerte. Vielleicht lag es an der trüben Stimmung, die von ihrem Kampfpartner ausging. Oder bildete sie sich das nur ein? Ratlos blieb sie stehen. Wohin liefen sie überhaupt? Sie konnten doch nicht einfach abhauen, sie mussten Paris retten! Aber sie brauchte einfach nur etwas Zeit für sich, es war ihr gerade einfach alles zu viel. Ach, was brauchte sie überhaupt? Was war mit ihr los? Unbewusst ging sie in die Hocke, bis sie auf dem Boden saß. Sie stützte ihre Ellenbogen auf ihre Knie und legte ihr Gesicht in ihre Hände. Am liebsten wollte sie so verweilen, ihr ganzes restliches Leben lang. Alles ausblenden, einfach nur ... "Ladybug?" Sie schwieg. "Ist es wegen mir? Es tut mir alles so leid. Die Idee mit dem Trick, die Verletzung an deinem Gesicht, meine komische Laune. Alles." Er setzte sich neben sie, bedacht darauf, genug Abstand voneinander zu halten, um sie in Ruhe zu lassen. "Heute ist einfach nicht mein Glückstag." Meiner auch nicht. Kein Glück weit und breit. Sie wusste nicht mehr weiter. Sie wusste nicht, wie sie mit sich selbst klarkommen sollte, wie sie mit Glaciator klarkommen sollte, wie sie ihn besiegen sollte. Wieso gab es nicht einfach etwas, das ihr Glück verschaffte, ihr einen Weg zeigte, wo keiner war, so etwas wie ...! "Du hast Recht." Warm lächelnd drehte sie ihren Kopf zu Cat Noir. "Uns fehlt ein wenig Glück. Du bist halt 'ne schwarze Katze", neckte sie ihn grinsend. "Dafür hast du ja auch einen Marienkäfer vor dir. Jemanden, der jedes Mal Glück mit sich trägt. Soll ich?" Cat Noirs Blick erhellte sich. "Ich bin soweit. Du findest immer einen Weg heraus, ich kann auf dich zählen." Er schenkte ihr das sonnigste Lächeln, wozu er in dem Moment fähig war, und zog sie hoch. "Na dann. Glücksbringer!", rief Ladybug so laut sie konnte, als wollte sie der ganzen Welt kundmachen, dass sie eine letzte Hoffnung gefunden hatte. Wie gewöhnlich fiel der Gegenstand vom Himmel hinunter. Direkt auf ihren Kopf. "Aua!", rieb sie sich diesen. "Heute ist echt kein Glückstag." Cat Noir dagegen konnte sich das Lachen nicht verkneifen. "Vielleicht solltest du an deinen Auffangreflexen arbeiten", grinste er sie frech an. "Vielleicht solltest du eher an deinen Manieren arbeiten", gab sie zurück. "Du müsstest erst Plagg kennenlernen", murmelte er vor sich hin.

Erst jetzt bückte sich Ladybug, um den Gegenstand aufzuheben und ihn zu begutachten.
"Willst du ihn jetzt etwa auch noch dafür bezahlen, dass er uns ein paar Kugeln Eis aufdrängt?" "Schnauze, Chat", murmelte sie die Augen verdrehend, musste aber trotzdem lächeln. Sie starrte den roten Geldbeutel an, der mit schwarzen Punkten verziert war. Das Design erinnerte sie schwach an ihre eigenen Taschen, die sie designt hatte. Allerdings war ihr Geldbeutel pink mit weißen Punkten. Das gepunktete Muster hatte sie schon vor ihrer Superhelden-Karriere geliebt. Das Kreativsein stimmte sie friedlich und half ihr dabei, runter zu kommen, wenn sie gerade nervös, aufgebracht oder verzweifelt war. Dieser schon fertig angebrachte Geldbeutel allerdings half ihr gerade nicht im Geringsten. Wozu sollte Geld in einem Kampf gut sein? Sie würde den Schneemann damit ja wohl kaum erpressen können. "Na, schau schon nach, wie viel Kohle der Himmel uns heruntergeregnet hat", drängte Cat Noir neugierig. Vorsichtig öffnete Ladybug endlich den Geldbeutel und spähte hinein. Seltsam. Sie sah nichts. Sie schob die einzelnen Fächer fürs Geld einzeln so weit wie möglich auseinander und bückte sich direkt darüber, untersuchte jeden Centimeter des Beutels. Keine Scheine, nein, nicht einmal die kleinste Münze. "Und?", fragte Cat Noir erneut. "Nichts. Absolut nichts." Sie runzelte die Stirn. "Im Ernst? Da dachte ich schon dein Glücksbringer würde einmal nicht allzu sehr in Rätseln reden und dann spielt er uns so einen Streich." Cat Noir hätte im Normalfall den erstbesten Witz rausgehauen, doch selbst er schien zu überrascht dafür zu sein. "Vielleicht versucht der Glücksbringer wieder symbolisch irgendetwas zu erreichen. Uns ein Zeichen geben, eine Erinnerung an etwas, das wir damit verbinden oder so, verstehst du?" Wie es manchmal schon so gewesen war, als der Glücksbringer sie zu Meister Fu bringen wollte. Aber das ... sie hatte nicht das Gefühl, dass gleich irgendein Blitzgedanke auftauchen würde, wohin sie gehen sollte. "Möglich", meinte Cat Noir, während er den Daumen und den Zeigefinger zu einer nachdenklichen Pose an sein Kinn legte. "Vielleicht befindet sich irgendwas nutzvolles in unserem eigenen Geldbeutel?" Wohl kaum, dachte Ladybug, während sie sich ihren eigenen kleinen Geldbeutel in Erinnerung rief. Er sah vom Design ähnlich aus, doch es fühlte sich nicht richtig an, ihn zu holen. Einfach nicht nach das, was sie beide weiterbringen würde. Es waren nur ein paar Münzen drin, sonst nur Kleinigkeiten, die sie dort aufbewahrte, wie ein winziges Foto von Adrien ... Außerdem konnte sie keine Gegenstände zum Kampf verwenden, die einen Erkennungswert hatten. Ihr Geldbeutel war selbstgemacht und somit auch einmalig, jeder der sie im echten Leben kannte, würde sofort erkennen, dass sie Marinette sein musste. Nein, so oder so ergab dieser Gegenstand keinen Sinn. Der Glücksbringer musste was anderes gemeint haben. Nur was?
Ladybug hatte das Gefühl, dass alles, was am heutigen Tag geschehen war, sich gerade wie eine Mauer vor ihr inneres Auge aufbaute und so verhinderte, das Offensichtliche zu erkennen. Die Idee, die ihr sonst immer so in den Kopf gesetzt wurde, dass sie genau wusste, was zweifellos der nächste Schritt war, fehlte heute. Die Idee, für die sie jedes Mal verantwortlich war. Sie schien einfach nicht kommen zu wollen. "Chat, alles scheint keinen Sinn zu ergeben. Ich hab einfach keine Ahnung, was der Glücksbringer zeigen will." Cat Noir legte ihr seine Hand auf die Schulter und hob mit seiner anderen Hand ihren Kopf leicht an. "Mach dir keine Sorgen. Sonst fällt dir während des Kampfes auch immer alles rechtzeitig ein, sobald es notwendig wird. Wir schaffen das schon, so wie jedes Mal." Sie konnte einfach nicht anders, als zurück in diese grünen Augen zu starren. Diese katzengrünen Augen, die sie immer aufzogen, aber gleichzeitig auch die Augen, die leuchteten, wenn er versuchte, sie zu ermutigen. Mit diesem grellen Licht im Auge, das bestätigte, wie ernst er es meinte, wie zuversichtlich er auf sie vertraute und wie sicher er sich ihres Sieges war. Die Augen, die sie anstrahlten und anhimmelten, und die Augen, die sich so intensiv in ihre brannten, dass sie die Welt wieder aus anderen Augen sehen konnte. Sie gaben ihr das Gefühl, dass sie es zusammen schaffen würden. Sie waren Kampfpartner, doch nicht nur das. Sie waren auch befreundet. Und Freundschaft heißt ja bekanntlich so, weil man mit Freunden alles schafft. Sogar Dinge wie die schrecklichsten, niederdrückendsten Tage überleben. Und einen bevorstehenden Kampf.
Sie löste sich von seinem Griff und schaute ihn voller Entschlossenheit und Mut an. "Lass es uns hinter uns bringen. Wenn kleine Kinder Schneemänner bauen können, können ja wohl ein paar Superhelden einen zum Schmelzen bringen." Cat Noir hob seine Faust kampfeslustig in die Luft. "Und ob wir das können!", stimmte er zu. Dann senkte er seine Hand kurz wieder. "Wie sieht's denn mit unserer Technik aus?" Ladybug warf ihm einen kurzen unsicheren Blick zu. "Was hälst du von einfach drauf los stürmen und am Leben bleiben?" Sie hoffte darauf, dass ihnen zumindest ein gewisser Überraschungseffekt zur Seite stehen würde. Und dass ihr die treffende Idee während des Kampfes kommen würde wie sonst meistens auch. Cat Noir erwiderte ihren Blick mit zusammengezogenen Augenbrauen, bevor er ihr ein scheues Lächeln schenkte. "Klingt nach 'nem Plan?"

Ladybug und Cat Noir: Wahre Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt