Nächtlicher Zusammenstoß

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"Zurückverwandeln." Marinettes erschöpfter Seufzer wurde von Tikkis Hüsteln unterbrochen. "Aham, Marinette? Dir ist schon klar, dass du am falschen Ort..." Marinette riss die Augen auf. "Wie bitte? Oh!"
Sie warf einen Blick aus ihrem Balkon hinunter. Sie hatte nach dem Ärger mit Cat Noir ihren Kopf zu voll gehabt, um daran zu denken, bei Adrien zu landen. Was sollte er denn denken, wieso sie plötzlich hier und nicht mehr bei ihm ist? Sie musste sich dringend wieder zu Ladybug verwandeln und so schnell wie möglich in Adriens Zimmer zurückspringen.

"Tikki, verwa-" ein erschrockenes Aufquieken. "Was tust du da? Marinette, soll er sehen, wie du als Ladybug durch sein Fenster kommst? Er ist doch schon längst wieder - äh, er ist doch die ganze Zeit dort gewesen und ist dort immer noch. Du kannst da nicht mehr zurück!" Oh je, wo hatte Marinette nur ihren Kopf gelassen. Verwirrt raufte sie sich die Haare. "Dann muss ich halt zu Fuß zu ihm und ihm erklären, dass- dass was? Wieso ich einfach so abgehauen bin? Och, Tikki, es ist alles zu kompliziert und ich zu fertig mit den Nerven. Heute ist mein Verstand nicht mehr zu gebrauchen."

Tikki schmiegte sich an ihre Wange und stupste ihre Nase an. "Dann lass es heute mit dem Komplizierten. Atme einfach nur tief durch und mach alles mit der Ruhe. Geh einfach zu Adrien und erklär ihm, dass du... ihn suchen gegangen bist, nachdem er so lang nicht aus der Dusche rausgekommen ist. Oder dass du Angst vor dem Schneemann hattest und schnell nach Hause wolltest oder deine Mutter angerufen und erklärt hat, dass du nicht so lange wegbleiben solltest oder..." Marinette war plötzlich wieder hellwach. "Du hast recht, Tikki, wie immer. Nichts wie los!"

Marinettes Keuchen durchschnitt die nächtliche Luft und das Leuchten ihrer Entschlossenheit nahm etwas von der Dunkelheit fort, die sich über ganz Paris ausgelegt hatte. Sie sah nicht einmal hin, wohin sie rannte, sie kannte den Weg zur Villa in- und auswendig und wollte keine Zeit damit verschwenden, sich erst umzusehen - nach irgendwelchen Schatten, gefährlichen Menschen oder Straßenlaternen, die es hier viel zu selten gab. Sie rannte weiter, ohne auf ihr schweres Atmen zu achten. Na ja, zumindest so lange, bis sie plötzlich in etwas stieß. Erst als sie ihren Kopf rieb und die zusammengekniffenen Augen öffnete, um einen Blick auf das Hindernis zu werfen, merkte sie, dass dieses Etwas jemand war. Und erst als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nahm dieser Jemand schärfere Konturen und Gesichtszüge an, bis sie erkannte, dass es sich bei diesem Jemand um ihn handelte.

"Aaaaah, ich mein, Aah-, Adrien, wie schön, äh, praktisch, dich zu sehen. Ich kann das alles erklären!" Ihre Stimme überschlug sich und war gedämmt vom immer noch andauernden Keuchen.
Oh Gott, was macht er um diese Uhrzeit ganz allein draußen? Er muss mich wohl suchen gegangen sein, als ich mich aus dem Staub gemacht hab! "Es tut mir leid, ich..." Adrien war so überrumpelt, dass er immer noch kein Wort herausbrachte. Er starrte sie immer noch entsetzt an und mit einem besorgten Blick auf seine Uhr fand er endlich seine Stimme wieder: "Nein, mir tut es leid, ich ... ich kann das alles erklären?" Das Zögern in seiner Stimme schien eher das Gegenteil auszusagen: 'Nein, ich kann das alles nicht erklären.'

Marinette schluckte unbehaglich. "W-was erklären?" Adrien kniff verwirrt sein linkes Auge zusammen und schüttelte bloß den Kopf. "Ich- wir sind wohl beide müde. Hast du- hast du zufällig was kleines zu Essen dabei?" Er leidet schon an Müdigkeit und an Hunger, solang wie er nach mir auf der Suche war, begriff Marinette schuldbewusst. "Hör mal, es tut mir wirklich leid, dass du dir Sorgen um mich machen und mich suchen gehen musstest. Ich hätte nicht so einfach ohne Bescheid zu geben..." "Dich suchen gehen?", fiel ihr Adrien ins Wort. Er schien aufrichtig unwissend zu sein. "Was machst du denn sonst hier draußen?", fragte sie mindestens genauso verdattert zurück. "Äähhh, dich suchen, ja, genau. Warum nochmal bist du hier draußen?" Irgendetwas an der Atmosphäre war so unangenehm und auf verwirrende Weise distanziert, dass Marinette vergaß, sich zur Antwort eine Notlüge auszudenken. Stattdessen griff sie einfach in ihre Tasche und hielt ihm ein paar Macarons hin. "Die hab ich zufällig dabei, falls du davon satt wirst", murmelte sie. "Ansonsten kannst du auch gern noch zu mir nach Hause, die Bäckerei hat sicher noch mehr zu bieten."
Adrien nahm die kleinen Gebäckstücke dankbar entgegen. So viel Erleichterung wie auf seinem Gesicht erschien, musste er wohl wirklich am Verhungern sein. Sie unterdrückte es, sich zum dritten Mal zu entschuldigen. "Wie kann ich das wiedergutmachen?", fügte sie doch noch hinzu, als er nicht antwortete.

Sie drehte sich kurz um, sah sich grob um, erst jetzt prüfend, wo sie sich überhaupt befanden. Sie standen so ziemlich genau in der Mitte der Strecke zwischen ihrem eigenen und Adriens Zuhause.
Adrien machte schließlich eine höflich ablehnende Geste. "Danke. Du hast mir schon einen größeren Gefallen getan als du glaubst. Nettes Angebot, aber es ist schon sehr spät und mein Vater macht sich sicher schon Sorgen." Marinette fiel erst jetzt auf, wie eigenartig es war, dass Gabriel Agreste, der Gabriel Agreste, seinen Sohn um diese Uhrzeit allein auf die Straßen gehen ließ. Verwundert sah sie sich erneut um, diesmal Ausschau haltend nach einem möglichen Bodyguard oder Nathalie. Nichts. Es gab niemand außer Adrien und sie, Marinette.

Marinette versteckte ihre fragende Neugierde und zwang sich stattdessen ein Lächeln ab. Der Kampf mit Cat Noir war ihr so erbärmlich lang vorgekommen, dass sie sich erst daran erinnern musste, was heute eigentlich für ein Tag war. "Na dann. War ein schöner Tag mit dir." Adrien sah sie einen Moment schweigend an, unerwartet durchschauend. "Trotz kleiner Unterbrechungen", brachte auch er ein Lächeln zustande. "Wir sehen uns dann morgen in der Schule?"
Marinette roch schon die Niedergeschlagenheit, die in ihr hochsteigen würde, sobald er nicht mehr bei ihr sein würde. "Das tun wir", bestätigte sie beinahe wehmütig und lächelte erneut kurz - ein trauriges Lächeln, das der reinen Höflichkeit galt.
"Also dann", meinte Adrien beinahe entschuldigend, während er sich zum Gehen wandte. "Ja. Also dann", wiederholte Marinette und wandte sich ebenfalls ab, in entgegengesetzte Richtung.

Die Nacht fühlte sich auf einmal viel kälter an. Die Verabschiedung hatte sich kalt angefühlt. Sich gegenüberzustehen und dennoch nicht beim anderen zu sein. Bloße Worte fühlten sich so kalt an. Wie gern hätte sie noch ein letztes Mal seine Hand gehalten. Jetzt, wo die Sonne nicht mehr schien, hätte seine Hand sie noch sinnvoller wärmen können.
Nicht nur im Herzen, sondern auch körperlich. Doch nun fühlte sie auf beiden Ebenen nur den kühlen Windhauch, der ihr ins Gesicht schnitt.

Ladybug und Cat Noir: Wahre Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt