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Als du den letzten Zug deiner Zigarette nimmst, ist die Sonne bereits wieder am aufgehen. Du siehst wie der Rauch sich langsam in Luft auflöst, als die ersten Sonnenstrahlen der aufgehenden Sonne dich erreichen. Deine Haut ist überzogen mit einer Gänsehaut, die rein aus der Kälte der kühlen Temperaturen des Novembers kommt. Aber du hast dir nicht die Mühe gemacht dir etwas Warmes anzuziehen.

Du kletterst vom Dach, zurück in dein kleines Zimmer, das, so beeinflusst von deiner Kindheit, immer noch so aussieht als würde ein 12-jähriges Mädchen darin leben. Als dir deine Freunde noch regelmäßig Besuche abgestattet hatten, hatten sie sich immer maßlos darüber ausgelassen, wie kindisch es doch eingerichtet sei. Aber was würde es schon bringen es anders einzurichten?

Du kannst die Erinnerungen zwar von den Wänden nehmen, aber deine Augen werden jeglichen Unterschied erbarmungslos bemerken, bis sie die Narben deines Herzens wieder aufkratzen und dich zum Ausbluten vollständig alleine zurücklassen.

Du hebst den Bilderrahmen auf, der schon wieder von der Wand gefallen ist, weil der Nagel nicht richtig hält. Das Glas hat schon so viele Sprünge, dass das Bild dahinter keinen Erkennungswert mehr hat, aber dein Herz bröckelt, als du ihn zwischen den Finger hältst. Es ist schon fast ein Jahr her und nichts sollte mehr diese Reaktion auslösen, aber deine Gefühle kannst du leider nicht einfach ausknipsen wie das Licht am Endes des Tunnels seit Anfang dieses Jahres.

Du seufzt und legst das Bild auf deinem Nachttisch wieder. Dann gehst du zu deinem Kleiderschrank, greifst nach dem sorgfältig zusammengelegtem Schlafanzug und ziehst dich um. Es ist eine anstrengende Prozedur, aber du tust sie dir trotzdem jeden Morgen an, um deine Mutter davon zu überzeugen, dass du auch wirklich geschlafen hast. Dann gehst du ins Bad, öffnest und schließt die Tür so leise, dass der Rest des Haushalts es nicht mitbekommt und starrst in den Spiegel.

Auf der Ablage liegen ewig viele Zahnpastatuben, weil jeder in deiner Familie scheinbar eine andere benötigt und der Ehering deines Vaters liegt sorgfältig in der Schachtel neben dem Waschbecken, was bedeutet, dass er bereits aus dem Haus ist. Als deine Augen dein Spiegelbild entdecken, wärst du gerne erschrocken über den Anblick, der sich dir bietet, aber die Normalität hatte sich schon vor Monaten eingeschlichen. Deine Klamotten hängen lose an deinem Körper, denn der letzte Monat war ein Festmahl aus heißer Luft und Trauer und du bist nur noch eine leere Hülle deiner Selbst.

Mit geübten, langsamen Bewegungen putzt du dir die Zähne und beobachtest intensiv wie das Wasser alles wegspült und wünschst dir, nur einmal im Leben, dass es das Gleiche auch mit dir tun würde. Dann bindest du deine Haare zu einem losen Zopf zusammen, aus dem sofort die ersten Strähnen herausfallen und kneifst dir in beide Wangen, um wieder etwas Farbe hineinzubekommen. Damit du wenigstens aussiehst als wärst du lebendig.

Deine Schritte sind leise und bedacht, als du die Treppe ins Untergeschoss hinunter gehst und du überspringst die Letzte, weil du weißt, dass sie knarzt. Der Geruch von Kaffee steigt dir in die Nase, nachdem du unten angekommen bist. Deine Mutter ist also schon wach. Als du um die Ecke biegst und die Küche betrittst, siehst du sie mit einer Zeitung und einer Tasse am Küchentisch hocken. Du hältst kurz inne und beobachtest sie, da sie dich noch nicht bemerkt hat.

Die sanften Konturen ihrer rosigen Wangen und ihr Dunkelblondes Haar, dass ihr etwas ins Gesicht hängt, ist etwas, dass du wohl immer mit dem Wort Mama verbinden wirst. Die schmale Brille, die ihr nicht ganz auf der Nase sitzt und ihre Stirn, die sich immer in Falten legt, wenn sie etwas nicht nachvollziehen kann, wird unvergleichbar immer deiner Mutter gehören. Du fragst dich selbst, ob es jemals jemanden geben wird, der das Gleiche über dich denken wird. Aber dann erinnerst du dich und schüttelst, beinahe abstoßend, den Kopf.

Deine Präsenz machst du bemerkbar durch ein kurzes Guten Morgen und deine Mutter schaut etwas perplex auf, erschrocken über den plötzlichen Besuch. Sie lächelt, als sie dich sieht, so eben, wie nur eine Mutter ihr Kind anlächeln kann und grüßt dich zurück. Du spürst ihren Blick auf dir, als du nach den Zuckerfreien Cornflakes und der pflanzlichen Milch greifst, von der der du genau 32 ml verwendest. Es ist kein missbilligender Blick, aber dennoch ist sie nicht zufrieden mit deinem mageren Frühstück.

Aus der Schublade fischst du dann einen Teelöffel, um langsamer zu essen und deinen Körper das wenige Frühstück auch richtig verarbeiten lassen zu können. Du willst die Schublade wieder schließen, als du deine Medikamentenbox entdeckst. Doch stattdessen greifst du danach und nimmst die zwei Pillen heraus, die du, mit einem Glas Wasser und den Müsli mit zum Tisch nimmst.

Deine Mutter beobachtet dich intensiv, während du die Pillen schluckst und nickt zufrieden, als beiden deinen Rachen hinter verschwunden sind. Sie wartet, bis du den ersten Bissen deiner Mahlzeit genommen hast und fragt dich dann, warum du an einem Sonntag schon so früh wach bist. Dein Blick gleitet automatisch zu der Digitaluhr des Ofens und du dir fällt erst jetzt auf, dass es gerade einmal viertel nach 7 ist. Du zuckst nur belanglos mit den Schultern und murmelst etwas davon, nicht gut geschlafen zu haben, bevor du weiter isst.

Die Augen deiner Mutter füllen sich mit Sorge wodurch du automatisch ihrem Blick ausweichst. Du willst nicht der Grund für ihre Probleme sein, aber du weißt, dass du es bist. Also versuchst du dich weiter auf dein Essen zu konzentrieren, aber nach zwei Happen ist dir der Appetit schon wieder vergangen. Damit stellst du die Schüssel weg, lässt die Worte deiner Mutter, du solltest aufessen, auf taube Ohren fallen und schleichst zurück auf dein Zimmer, um es den Rest des Tages nicht mehr verlassen zu müssen.

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