Abends liege ich noch eine ganze Weile wach und versuche mich an mein Gespräch mit Max zu erinnern. Also, erinnern tue ich mich schon, nur nicht mehr ganz im Detail wie er geschaut hat und wie er geredet hat und wie er sich zu mir geneigt hat und wie er gerochen hat ... Ich spinne, das dürfte wohl offensichtlich sein. Aber okay, laut Internetdiagnose bin ich schwer verknallt, da darf ich so was. Ich komme mir damit aber doch etwas bescheuert vor, auch wenn ich eigentlich darf. Bin ich sehr verwirrt? Ich meine, einfach so noch um halb elf nachts im Bett liegen und an einen Typen denken, während ich gedankenverloren Herzchen und meinen Namen in mein Sudoku-Buch zeichne. Willkommen in der schrägen Welt von einer kopflosen Sveta. Wobei herzlos irgendwie besser passen würde, immerhin bin ich fest davon überzeugt, dass Max es hat; aber andererseits klingt herzlos wieder so kühl. Dabei bin ich eindeutig nicht kühl. Mäh, Hormone!
Ich klappe meinen Sudoku Block zu und schnappe mir mein Handy und meine Kopfhörer vom Nachttisch. Vielleicht kann ich zu Industrial Metal Klängen doch irgendwann meinen Schlaf finden. Wenn nicht, dann muss Queen her, die Jungs bringen mich immer ins Schlummerland. Vielleicht mit Max? Ach warte, er hat mich ja eingeladen! Ich muss mir unbedingt überlegen, mit welcher Erklärung ich mich dann von meiner schäbigen Familienfeier davon schleichen kann. Beziehungsweise wie ich am zweiten Weihnachtstag in eine Disko am anderen Ende der Stadt komme, ohne dass meine Eltern gleich vollkommen am Durchdrehen sind. Ich kenne sie doch, angeblich ist es nur, weil ich ihr kleines Mädchen bin, aber ich bin fest davon überzeugt, dass da auch ein klein wenig Ekel dahinter steckt. Meine Mutter, die nie raus durfte und mein Vater, der nicht weiß was Spaß eigentlich ist und wie man das schreibt.
Letztendlich kann ich noch so lange darüber sinnieren, wie ich will, es ändert doch nichts an der Tatsache, dass ich jetzt innerhalb von vier Tagen vollkommen auf diese eine Nacht in der Diskothek von dem Vater von der Freundin von dem Bruder von Max hinarbeiten muss. Da muss ein Masterplan her, anders werde ich Max wohl absagen müssen und dann ... war es das. Ich könnte heulen, warum ist das Leben zu Weihachten immer am unfairsten? Und so frustriert. Dabei müssten doch alle in geheuchelter Gutmütigkeit und Geberlaune sein. Einerseits bin ich ja froh, dass meine Eltern bei dem Mist nicht mitmachen, aber dass selbst mir da nichts zu Gute kommen wird – frustrierend.
Die zwei darauffolgenden Tage verbringen meine Mutter und ich mit Backen. Morgen ist Heiligabend und dann wird wieder ein Fluch der Karibik Abend gemacht. Ich will nicht schon wieder diesen Film schauen, auch wenn er lustig ist. Ausnahmsweise schwebt mir nach dem frisch erworbenen blutigen Thriller, aber damit kann ich frohe Weihnachten für dieses Jahr wohl vergessen. Mein Bruder könnte nicht mehr schlafen und meiner Mutter würde es den Appetit rauben. Merkt man eigentlich welch eine komplizierte Familie ich hier habe? Ich hoffe nicht allzu sehr, denn immerhin gehör ich ja mit zu dem Dramahaufen.
Am Mittag kommt dann der Anruf meiner Cousine. Der ist fast schon obligatorisch, wenngleich mehr als nur unnütz, immerhin sehen wir uns jedes Jahr am ersten Weihnachtsfeiertag. Dennoch, sie muss eine halbe Stunde lang, gefühlte drei Stunden, mit mir darüber quatschen wie toll ihr Outfit für Weihnachten sein wird und auf was für eine tolle Party sie am darauffolgenden Tag darf und wie hammermäßig der Abend wird und dass wir unbedingt mal wieder etwas unternehmen sollen. Ich war noch nie sonderlich gut, was Gedächtnisprotokolle anging, aber das alles aufzuzählen wäre echt eine Tortur. Dabei ist es jedes Jahr das Gleiche, irgendwann kennt man die ganze Leier schon auswendig.
„Hallo Sveta, sag mal weißt du schon das von Kai und mir? Also als ich mich ja mit dem Niklas getrennt hatte, da wollte ich ja nie mehr etwas mit einem Typen zu tun haben, aber dieser tolle Arbeitskollege von Niklas – du weißt doch noch wer das ist? – ist einfach nur ein Traum. Er ist nett, lieb, zuvorkommend, sieht super aus, ein Traummann. Wenn ich ihn nicht selbst haben wollte, würde ich ihn dir geben, du bist was Jungs anbelangt ja immer so arm dran. Naja, jedenfalls gehen Kai und ich am zweiten Weihnachtsfeiertag gemeinsam in die Diskothek und machen uns einen schicken Abend. Wir übernachten dann auch in einem der teuersten Hotels der Stadt, als frisch verliebtes Paar muss man sich ja auch mal was gönnen. Jedenfalls werde ich da diese wundervollen blauen High-Heels tragen – hast du das Bild davon schon auf Facebook gesehen? Ich bin mir sicher, ich werde der Knüller sein. Schau doch nachher auf Facebook, die Schuhe sind wirklich ein Traum! Und dann auch gleich das passende Kleid dazu gefunden, das Bild findest du natürlich auch auf Facebook. Ich hoffe man sieht meinen Busen nicht allzu sehr, ich will nicht nuttig wirken. Du weißt ja wie schnell Typen nur das eine wollen. Ah ja, weißt du nicht. Jedenfalls wollten ja noch alle meine Freunde innerhalb von ner Woche mit mir ins Bett und ja, da merkt man sowas halt schnell. Sag hab ich dir schon gesagt, dass Kai und ich gleich am ersten Date in die Kiste sind? Immerhin ist er ja so süß und ich denke er wird der richtige sein. Vielleicht heirate ich ihn. Gut, das hatte ich auch bei Niklas, Georg und Steffen gesagt, aber das war ja nicht so und da war ich ja noch jung. Fünf Monate liegt das schon zurück, wie die Zeit vergeht… Also wir wollen auf den Malediven heiraten, weil er dort Familie hat und die haben einen super tollen Luxusbungalow. Ich denke jedenfalls, dass es Luxus ist, immerhin hat das Wohnzimmer eine riesige Glasfront, das muss ja Luxus sein. Gut, ich weiß, dass kann man nicht so von einem Foto her bestimmen, aber es sieht halt so aus, als wären sie wohlhabend. Und das ist dann sicherlich auch eine gute Partie, findest du nicht?“
Das Gelaber geht echt ewig so weiter. Erstens macht die Kleine weder Punkt noch Komma und sie weiß eindeutig nicht, warum alle Typen mit ihr ins Bett wollen. Als Beispiel einfach mal ihr Kleid. Nein, es sieht nicht nuttig aus, es sieht vulgär aus. Selbst die billigen Dirnen vom Straßenrand haben mehr Stil. Zitat von ihr unter dem mehr als nur kurzen Kleid (unter das man keine Unterhose anziehen kann, weil man die sonst sehen würde und bei der ein BH vollkommen unnötig wäre, weil eh der halbe Busen raushängt) auf Facebook:
„Das Kleid ist ja sooo schick! Ich bin so glücklich es gefunden zu haben. <333333333 luv it“
Wer auch immer der Armen mal Stil vermachen sollte, bitte auch an Verstand und Sprachenkenntnisse denken. Das kann man ja nicht aushalten. Aber sie ist halt meine Cousine und deshalb gehe ich auch drei Tage vor Silvester und an Silvester, weiß der Fuchs was mich da geritten hat, mit ihr feiern beziehungsweise shoppen. Bin ich eigentlich sadistisch veranlagt?
Aber nein, ich versuche so gut es geht mir nichts anmerken zu lassen und sie zu mögen, sofern es mir halt gelingt. Nur kurz darauf ruft meine Oma an und will wissen, ob wir auch daran gedacht haben, dass wir sie abholen müssen. Haben wir, wie sonst käme sie zu uns. Aber gut, nach dem Schlaganfall darf man da nicht zu wählerisch sein, was das Erinnern anbelangt.
Das gesamte Weihnachtsfest artet aber wieder in der altbekannten Hektik aus. Der Weihnachtsbaum steht noch nicht, mein Bruder hat kein Talent darin das Plastikding aufzubauen (im Ernst, wer beginnt auch nur irgendwas oben aufzubauen?) und die Kugeln fallen meinem Vater zur Hälfte beim Transport vom Dachboden herunter. Wir haben Talent, eindeutig, denn genau drei Stunden bevor die Familie kommt am Weihnachtsmittag steht der Baum, der Braten ist im Ofen und die Kartoffeln sind geschält, der Salat geputzt und der Kuchen steht in der Garage zum Abkühlen der Glasur. Wir sind geschafft und fix und fertig, das Haus auf Hochglanz poliert und die zerbrochene Vase fein säuberlich im Glascontainer versteckt. Es war ein Geschenk meiner Großeltern, doch glücklicherweise kann sich meine Oma an kaum was erinnern. Schlaganfall hat halt eben auch positive Seiten. Das Debakel ist perfekt, als meine Tante beginnt von ihrer Gluten Unverträglichkeit zu reden (grundsätzlich hat sie alles, was man in Gesundheitsfachzeitschriften lesen kann) und sich weigert von den Keksen, Kuchen oder dem mit brauner Soße servierten Braten zu essen. Nur Salat schadet ihrer Figur nun wirklich auch nicht, weshalb wir sie versuchen so gut es geht zu ignorieren.
Die Bescherung kann da nur noch besser laufen. Mein Cousin schmeißt den Weihnachtsbaum um und die Glasfigur für meine Mutter zerbricht, weil mein Bruder sich die Pfoten nach dem Pommes Essen nicht gewaschen hat und sie ihm aus den Händen gerutscht ist. Wundervoll. Ich versuche irgendwie nicht da zu sein, damit niemand auf die Idee kommt noch wegen irgendeiner Kleinigkeit mit mir zu meckern – denn jetzt hat offiziell der traditionelle Familienstreit an Weihnachten begonnen. Ich verstehe die Statistik, die besagt, dass es nach Weihnachten die meisten Scheidungen gibt. Kein Wunder, wenn sich alle so benehmen. Ich versuche das Gebrülle der anderen auszublenden, ebenso wie das ewige Geplapper meiner Cousine über ihren neuen und super tollen, einfühlsamen, netten, charmanten, perfekten Freund und wie toll er doch dies und das macht und wie berauschend er sich um sie kümmern will, wenn sie bis alt und schrullig sind. Ich will echt auf die Party, dann bin ich morgen aus dem Haus und muss mir nicht das Telefongebrülle anhören, das stets auf die Streitereien und gesagten Worte von Weihnachten folgt. Kann man denn nicht ruhen lassen, was andere beginnen?
Voller Frust bin ich schon um halb sechs Uhr abends in meinem Zimmer und verbarrikadier mich in meinem Deckenfort – als würde es einer Invasion standhalten können, doch ich mag es auf engem Raum zu sein. Ich höre laut meine Musik und muss so das Geschreie von unten nicht mehr hören. Außerdem habe ich mir eine neue Fanfiktion aus dem Internet runter geladen und lese mich durch neue Abenteuer von Harry Potter und sonst einem Steinprinzen. Nicht perfekt, aber definitiv der schönste Teil an Weihnachten. Ich versuche nicht dauernd auf den Facebookstatus von Max zu schauen, ich Stalker hab nämlich den Laptop neben mir aufgebaut und versuche auf eine Antwort von ihm zu warten. Was heißt Antwort, ich bin nicht so verzweifelt, dass ich ihn angeschrieben habe. Aber ich hoffe, dass er mich heute noch anschreibt und vielleicht wegen morgen fragt. Man kann ja wohl noch träumen.