Andrés hatte immer versucht seine Krankheit mit anderen Augen zu sehen. Als eine Chance, das Leben in vollen Zügen zu genießen und keinen Tag zu verschwenden.
Verdammt nochmal, er hatte fünf mal geheiratet! Er wollte die Liebe spüren, er wollte sich fallen lassen, er wollte in den Armen seiner Ehefrau aufwachen und wissen, dass die Welt in Ordnung war...
Tatiana war die fünfte Ehefrau gewesen. Er hatte sie vor ein paar Tagen in Italien geheiratet, im Innenhof des Klosters, in dem er, sein Bruder Sergio und Martín Berrote lebten. Martín... sein bester Freund seit fast zehn Jahren. Sein Seelenverwandter.
Andrés hatte sich schon vor langer Zeit eingestanden, dass keine Ehefrau an das herankam, was ihn mit diesem Mann verband.
Sergio hatte ihn oft darauf hingewiesen, dass Martín mehr für Andrés empfand, doch der hatte das immer nur belächelt.
Und doch war sein bester Freund ein sensibles Thema... Einmal hatte er einem Fremden in einem Restaurant eine Gabel in den Schwanz gerammt, weil der sich über „seine Fliege" lustig gemacht hatte. Beiden war jedoch klar gewesen, dass der Mann nicht über Andrés' Style, sondern über Martín gelacht hatte.
Andrès liebte ihn, so viel war klar. Martín war für ihn da, wenn kein anderer es war.
Und wenn Andrés nachts alleine im Gewölbe des Klosters saß und über sein Leben nachdachte, gesellte sich Martín stumm zu ihm. Manchmal saßen sie nur da und starrten an die Wand, ein anderes Mal hatten sie Wein getrunken und zu italienischen Liedern getanzt, als gäbe es kein Morgen.
Heute malte Andrés mit Ölfarbe auf eine seiner Leinwände, während Martín an einem der Schreibtische in einer Ecke saß und sich zu irgendwelchen Dingen Notizen machte.
Andrés tauchte den Pinsel in die leuchtende gelbe Farbe auf seiner Palette, als seine rechte Hand zu zittern begann. Sofort hielt er inne und legte die Malgeräte beiseite. Es war eine Erscheinungsform seiner Krankheit. Immer wenn das Zittern begann, fragte Andrés sich unweigerlich, wie lange ihm noch bleiben würde.
Er umgriff seine zitternde Hand mit der anderen und atmete tief ein und aus, in der Hoffnung, es würde ihn beruhigen.
„Andrés? Was ist los?", fragte Martín plötzlich, der dessen Verhalten bemerkt hatte. Sofort stand er von seinem Tisch auf und lief auf den anderen Mann zu.
„Es ist nichts...", sagte Andrès, doch Martín hatte bereits seine Hand genommen und betrachtete die stockenden Bewegungen der Finger.
„Das ist nicht nichts... wo sind deine Medikamente?", fragte Martín und sah Andrés aus traurigen, dunkelblauen Augen an. Dann begann er in einem Regal zu wühlen.
„Martín..."
„Hör auf! Du nimmst weiter die Medikamente!"
„Was soll das bringen? Das Mittel sorgt dafür dass nur 9 von 10 Menschen an dieser Krankheit sterben... Ich ziehe das hier nicht unnötig in die Länge."
Martín sah ihn nun wütend an. Er lief schnellen Schrittes auf Andrés zu, bis er nur noch Zentimeter von ihm entfernt war. Seine Lippe bebte.
„Solange ich hier bin, werde ich dir diese Medikamente verabreichen, ob du es willst oder nicht. Ich werde nicht zusehen, wie mein...bester Freund stirbt! Ich werde alles tun, alles versuchen, um dich zu retten, Andrés."
Martín stiegen nun Tränen in die Augen und er hatte Andrés' Gesicht in seine Hände genommen. Er sah seinem Gegenüber fest in die Augen und Andrés war gerührt von Martíns Reaktion.
„Sag mir, was ich tun kann...", sagte dieser und lehnte seine Stirn an die seines Freundes.
Andrés zögerte erst, doch dann ging er zu einem Tisch weiter hinten in dem Gewölbe und holte eine kleine Tasche aus eine der Schubladen hervor. Er überreichte sie Martín.
„Würdest du mit dir Spritze zwischen die Knöchel geben?", fragte Andrés, doch sah nur beschämt zu Boden. Martín jedoch nahm ihm die Tasche sofort aus der Hand und bereitete die Injektion vor.
Andrés erklärte ihm kurz, wohin er stechen musste und Martín vollführte das Spritzen perfekt.
„Ich werde da sein, Andrés", sagte er noch, als er die Medikamente wieder verpackt hatte. „Ich werde immer da sein."
Andrés nickte. „Das weiß ich, mein lieber Martín... das weiß ich."
