Prolog

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Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, an dem mein Vater starb. Es war der 26. August 2148. Sie waren alle da. Meine Mom, der Ratsvorsitzende, ich; Wells. Wells, mein bester Freund. Der meinen Vater verraten hatte. Ich war noch am selben Abend verhaftet worden. Damals war ich 16 gewesen.

Ich kann mich daran erinnern, wie ich eine Woche zuvor mit ihm, Wells und seinem Vater und Ratsvorsitzendem der Ark, Thelonious Jaha, das Fussballspiel gesehen hatte. Das blöde Fussballspiel der australischen Fussballmannschaft gegen die amerikanische. Ich kann mich daran erinnern, dass es mich gelangweilt hatte. Aber vor allem kann ich mich daran erinnern, was meine Mom gesagt hatte, als sie von der Arbeit nach Hause gekommen war. Hätte ich das Spiel spannender gefunden, ich hätte es mit Sicherheit überhört, was sie zu meinem Vater sagte. Aber so bekam ich jedes Wort mit. „Als ich aus der Klinik kam, bin ich Bennett über den Weg gelaufen; er hat die Systemanalyse, die du haben wolltest." Die Stimmung war bis dahin ausgelassen, da die anderen außer mir das Spiel gespannt verfolgt hatten, aber ich spürte, dass mein Vater mit einem Mal angespannt war und die Stimmung kippte. Mein Dad sah auf seine Uhr und stand vom Sofa auf und entschuldigte sich mit der Aussage, dass es nur ein paar Minuten dauern würde. Als der Ratsvorsitzende fragte, ob alles in Ordnung war, erwiderte mein Dad nur: „Oh ja; die Kiste ist eben alt. Irgendwas ist immer." Ich kann mich noch genau an sein Lächeln erinnern, als er zur Tür hinaus ging und ich wusste, dass irgendetwas los war. Etwas, wovon er niemandem etwas erzählen wollte; jedenfalls noch nicht. Mein Vater kam zwar wie versprochen nach ein paar Minuten zurück, aber ich merkte, dass ihn etwas beschäftigte. Er war Ingeneur gewesen und die Systemanalyse, die er anscheinend bekommen hatte, schien ihn zu beschäftigen.

Drei Tage später sah ich, wie mein Dad in sein Arbeitszimmer ging und wie meine Mom ihm folgte. In der Wohnung war sein Arbeitszimmer nur durch eine halbgezogene Wand von unserem Wohnzimmer getrennt und ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand und hörte zu, was meine Eltern dort besprachen. Mein Vater redete davon, dass er Jaha bestätigt hatte, dass es keine Lösung gab. „Die Ark hat noch für ein Jahr Sauerstoff, vielleicht für zwei." Ich erinnere mich, wie ich darüber nachgedacht hatte, was das für uns alle bedeutete. Die Ark, das ist die riesige Raumstation, auf der wir im Weltall leben, weil ein Leben auf der Erde unmöglich ist. Wenn hier der Sauerstoff knapp wurde, bedeutete es, dass wir alle sterben würden. Und ich meine einen qualvollen Tod, wenn es so weit kommen sollte. „Die Bewohner müssen es erfahren", hatte mein Vater gesagt, doch meine Mutter hatte sofort protestiert und gemeint, dass es eine Massenpanik auslösen würde. Es war einer der wenigen Momente, in denen meine Eltern sich stritten. Meine Mom verlangte meinem Vater das Versprechen ab, es für sich zu behalten, aber mein Dad gab es ihr nicht. „Tu es für Jade", sagte meine Mom und ich erinnere mich, wie ich die Luft anhielt. „Ich tue das für Jade", erwiderte mein Vater jedoch und meine Mom sagte, dass sie ihn floaten würden und dass sie es nicht verhindern können würde. Ich hörte, wie mein Vater weiter meinte, dass die Bevölkerung ein Recht hatte, es zu erfahren und dann kamen ihre Schritte in meine Richtung. Schnell und leise lief ich zurück zu meinem Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Ich erinnere mich, dass ich es geliebt hatte, so schnell und leise durch die Wohnung zu gehen, wie es ging und ich erinnere mich, dass ich manchmal an dieser Wand stand und meinen Eltern zuhörte, wenn sie miteinander über Dinge redeten, die mich interessierten. Ich kann mich erinnern, dass ich es liebte, nicht entdeckt zu werden und ich war gut darin; ich wurde nie entdeckt. Ich erinnere mich daran, dass es sich so angefühlt hatte, als könnte ich mich unsichtbar machen. Aber in diesem Moment, als ich wieder in meinem Zimmer stand und von meinem Fenster aus zum Mond blicken konnte, fühlte ich mich überhaupt nicht unsichtbar und leicht, sondern schwerfällig und mir klar, dass ich mich leider nicht einfach wegzaubern konnte; wegzaubern aus dieser Blechkiste, hinunter zur Erde, wie ich es mir so oft vorgestellt hatte.

Am nächsten Tag hatte ich mich mit Wells getroffen. Wir kannten uns, seit wir Kinder waren, weil unsere Eltern schon lange befreundet waren und ich hatte Wells immer vertraut. Ich kann mich erinnern, dass wir meinen Lieblingsfilm sahen, aber ich konnte mich nicht darauf konzentrieren und war in Gedanken bei dem Geheimnis, das mich nicht loslassen wollte. Wells fiel es natürlich auf und so erzählte ich ihm schließlich davon. Er meinte, dass es schon öfter Störungen gegeben hatte, aber ich erklärte ihm, dass es diesmal anders war und nicht repariert werden konnte. Ich erzählte ihm, dass mein Dad es öffentlich machen wollte und wir beide wussten, dass er dafür getötet werden würde. Also nahm ich Wells das Versprechen ab, dass er es niemandem erzählte und ich kann mich genau an seine Worte zu mir erinnern. „Dein Geheimnis ist bei mir sicher. Ich versprech es dir."

Ich kann mich daran erinnern, dass sie am zweiten Tag nach meinem Gespräch mit Wells an unserer Tür klopften. Schwer bewaffnete Wachmänner in Uniformen. Meine Mom war noch auf der Arbeit und wir waren allein in der Wohnung. Ich erinnere mich, wie mein Dad die Tür aufmachte und wie sie ihn blitzschnell ergriffen und wegen Hochverrats verhafteten. Zwei der Wachen waren zu mir gekommen und hielten mich fest, als ich versuchte, zu meinem Vater zu gelangen. Ich erinnere mich, wie sie ihn von mir wegzerrten und wie er sie bat, mich loszulassen. Und tatsächlich taten sie es auch und ich konnte ihn für zwei Sekunden umarmen. Ich erinnere mich, wie ich ihm sagte, dass ich einen Weg finden würde, die Bevölkerung zu warnen und ich erinnere mich an seinen verzweifelten und besorgten Blick. Er flehte mich an, es nicht zu tun und jetzt gehe ich davon aus, dass die Wachen es mitbekommen haben mussten, denn sonst wäre ich nicht verhaftet worden. Wells hatte zwar meinen Vater verraten, aber ich wusste, dass er mich niemals verraten würde. Die Wachen zogen meinen Dad endgültig aus der Wohnung und er war verschwunden.

Ich erinnere mich daran, wie meine Mom vollkommen aufgelöst nach Hause kam und wir erfuhren, dass die Hinrichtung noch am selben Abend stattfinden würde.

Ich kann mich noch genau an die Nacht erinnern, in der mein Vater starb. Ich kann mich daran erinnern, wie er von Wachen begleitet zur Luftschleuse geführt wurde und wie wir hinter ihm hergingen. Ich erinnere mich an den Moment, in dem die Wachen seine Handschellen lösten und wie wir auf ihn zu liefen und er uns an sich drückte. Ich erinnere mich daran, dass Wells und der Ratsvorsitzende neben der Luftschleuse standen und alles mitansahen. Aber ich schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit; noch nicht. Ich kann mich an das Flüstern meines Vaters erinnern, wie er sagte, dass meine Mom die Menschen warnen musste. „Die Ark wird sterben, es gibt keinen Ausweg." Und ich kann mich daran erinnern, wie ich den Entschluss fasste, dass ich sie warnen würde. Lieder ließen sie es mich nicht mal versuchen und sperrten mich weg, bevor ich den Gang auch nur verlassen konnte. Aber das geschah erst später, nachdem von meinem Vater nur noch die Erinnerung an ihn übrig geblieben war. Ich erinnere mich, wie er meiner Mom seinen Ehering gab und ihr sagte, sie sollte gut darauf aufpassen. Und ich erinnere mich daran, wie ich selbst an meinem Ring drehte, den meine Großmutter mir einst geschenkt hatte. Meine Mom trägt diesen Ring seit jenem Tag an einer Kette um ihren Hals. Sie hat ihn noch nie abgenommen. Wie auch ich den Ring meiner Oma nie abgenommen habe. Ich erinnere mich, wie mein Dad meine Mom und mich wieder in den Arm nahm und wie wir weinten. Ich erinnere mich an seine geflüsterten Worte, die uns beruhigen sollten. „Ist schon gut, ist schon gut." Und ich erinnere mich an Jaha, der meinte, dass es Zeit wurde. Ich hätte ihn hassen können in diesem Moment, aber ich war zu sehr mit meiner Trauer beschäftigt. Ich erinnere mich daran, wie er uns beide noch einmal fest drückte und uns dann mit Tränen in den Augen losließ. Ich erinnere mich, wie er sagte „Ich liebe euch" und ich erinnere mich, wie wir sagten, dass wir ihn auch liebten. Ich erinnere mich daran, wie der Wachmann die Luftschleuse öffnete und an das mechanische, viel zu laute Geräusch, als die Türen aufschwungen. Ich erinnere mich, wie mein Dad sich langsam umdrehte und in die Luftschleuse ging. Wie er uns gegenüberstand, als die Türen sich schlossen. Und ich erinnere mich, wie sich die Tür zum großen, weiten Universum öffnete und mein Vater von der Dunkelheit verschluckt wurde. Ich erinnere mich, wie meine Mom und ich uns weinend in den Armen lagen und sie versuchte, mich zu trösten. Ich erinnere mich daran, wie die uniformierten Wachmänner auf mich zu kamen und mich ebenfalls festnahmen und wegen Hochverrats verhafteten. Ich kann mich daran erinnern, wie sie mich abführten und in die Zelle sperrten, in der ich jetzt seit einem Jahr lebe.

Ich kann mich noch genau an die Nacht erinnern, in der mein Vater starb. Es war am 26. August 2148. Ich war noch in der selben Nacht verhaftet worden, vor einem Jahr und 18 Tagen. Damals war ich 16 gewesen.

The 100 - Down On Earth [German]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt