Kapitel 1

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„Ich kann das nicht. Ich kann das einfach nicht.",flüstere ich immer wieder und wieder. Ich stehe am Abgrund, vor mir das dunkle Schwarz, die unerbittliche Leere. Nichts. Doch dann fasse ich all meinen Mut zusammen und springe. Ich spüre, wie ich von der Dunkelheit verschluckt werde, umhüllt und in ihr aufgehe. Ich schließe die Augen, das Dunkle erstickt meine Schreie. Der Abgrund rückt immer näher. Mich kann keiner hören oder sehen. Es ist mein Verdienst, dass das geschieht. Doch in jenem Moment höre ich auf zu schreien. Ich öffne die Augen. Dieser Moment, kurz bevor ich auf dem Boden aufschlagen würde, ist wie, als würde die Zeit still stehen. Alles läuft noch mal vor meinem geistigen Auge ab: 


Ich war sieben Jahre alt, aus dem Nebenzimmer hörte ich meine Mutter husten. Sie hat einen regelrechten Hustenanfall. Es passierte in letzter Zeit immer öfter, doch wenn ich sie fragte, versicherte sie mir, nur so wie immer, dass es ihr gut ginge. Obwohl ich wusste, dass das nicht der Wahrheit entsprach, beruhigte es mich. Zwei Wochen darauf sah ich das erste Mal Blut in einem Taschentuch. Ich entdeckte es unerwartet. Meine Mutter war gerade einkaufen und ich sollte zu Hause bleiben um auf sie zu warten. Ich saß auf einem der zwei Sessel im Wohnzimmer, da sah ich es. Das blutbespritzte Tuch lag auf dem kleinen Wohnzimmertisch, auf der Seite, auf der sie für gewöhnlich saß. Ich erschrak zutiefst und war zunächst geschockt, wusste gar nicht wie ich darauf reagieren sollte, doch da ich schon erahnte, dass es meine Mutter beunruhigen würde, wenn sie erfuhr, dass ich es gesehen hatte, beließ ich es dabei, fragte sie dennoch immer wieder, ob es ihr wirklich gut ginge.

„Mama, was ist denn los?", fragte ich sie drei Monate später. Es war mein achter Geburtstag. Sie stand an der Toilette und keuchte, während sie immer wieder Blut spuckte. Es war ein elender Anblick. Jetzt erst bemerkte man richtig, wie dünn sie geworden war. Es hat etwas mit ihrer Krankheit zu tun, dachte ich diesen diesen Tages traurig. Jetzt richtete sie sich auf, und kam auf mich zu. Sie riss sich sichtlich zusammen, um nicht wieder Blut spucken zu müssen. „Mir geht es heute nicht so gut mein Schatz.", meinte sie, während sie zu mir in die Hocke ging. „Schon seit längerem. Ach ja und sieh mal, ich hab etwas für dich." Sie zog einen roten Umschlag aus ihrer Tasche. „Der ist für dich. Ich weiß, du kannst jetzt noch nicht so gut lesen, aber wenn du es dann besser beherrschst und du bereit dafür bist ihn zu öffnen, dann tu es. Aber warte noch etwas damit, Nelli." Sie sah mir eindringlich in die Augen. Als sie sich jetzt wieder aufrichten wollte, zuckte sie zusammen. Plötzlich durchschüttelte es ihren Körper immer wieder und als ich ihr nun in die Augen blicken wollte, war ihr Blick leer. Ich sog scharf die Luft ein, konnte nichts tun, ich war wie versteinert. Sie kippte nach hinten. Ich stieß einen Schrei aus, einen Laut, den ich noch nie zu vor von mir vernommen hatte. Ich fiel vor ihr auf die Knie und schluchzte immer wieder ihren Namen. Dann griff ich nach dem Telefon und wählte die erstbeste Nummer, die mir in den Sinn kam. Nicht etwa den Notruf, sondern die unserer Nachbarin. Ab diesem Moment ging alles ganz schnell. Ich stand einfach nur dabei, hörte meinen Atem und spürte, dass ich wie verrückt zitterte. Alles war so unwirklich! Dunkel erinnere ich mich noch daran, dass ich von fern Sirenen hörte, doch als der Krankenwagen ankam, war meine Mutter bereits tot. 

Außer meinem Vater, der als ich drei Jahre alt war verschwand und den keiner von unseren Bekannten, nicht ausgeschlossen uns, bisher je wieder gesehen hatte, also als unauffindbar galt, hatte meine Mutter und ich keine Verwandtschaft. Die Familie meines Vaters war erstens umgezogen und zweitens kannten wir sie sehr schlecht. Von Mamas Seite aus waren alle bereits verstorben. Sie hatte keine Geschwister und meine Großeltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Wir hatten somit also keinen außer ein paar Nachbarn und alten Freunden, zu denen wir uns hätten wenden können. Im Grunde genommen würden uns diese guten alte Freunde nur aus dem Grund bei sich aufnehmen, weil sie Mittleid hätten, oder gar dachten: Wir nehmen euch nur bei uns auf, weil wir mal Freunde waren. Aber bleibt ja nicht zu lange. Und das wäre nicht so schön. Zu Ärzten gingen wir selten. Mama war stets misstrauisch ihnen gegenüber gewesen und vertraute voll und ganz auf die Heilmittel, die sie kannte. Auf dem Balkon unserer kleinen Wohnung wuchsen Kräuter. Mama wusste immer jedes Kraut mit vollständigem Namen ebenfalls in welcher Mischung es jemandem helfen konnte. Sie war mir immer ein großes Vorbild gewesen, bis sie dann starb. 

In der ersten Zeit konnte ich es kaum fassen, dass es meine Mutter nicht mehr gab. Die Beerdigung ein paar Tage später half da auch nicht, es wurde eher noch schlimmer als besser. Ein paar Nachbarn waren gekommen und zwei gute Freunde ihrerseits von früher. Diese hatte ich auf Bildern schon gesehen, und nun erkannt. Alles war traurig. Besonders erschrak ich allerdings an den wenigen Leuten die gekommen waren. Ich hätte sogar fast laut aufgeschrien bei diesem Anblick. Allerdings musste man dabei bedenken, dass ich ja von vorne rein gewusst hatte, dass wir, Mama und ich sehr abseits gelebt hatten und uns nicht sehr oft bei unseren wenigen Nachbarn beteiligt hatten. Als ich mich umsah, bemerkte ich, wie schlicht das Grab meiner doch so voller Lebensfreude gewesenen Mutter gehalten war. 

Ich will heute stark sein, sagte ich mir innerlich. Mein Gesicht und meine wirren Gefühle blieben den restlichen Tag ausdruckslos. Auch in den nächsten Tagen, in denen ich dann in ein Waisenhaus gebracht wurde, konnte ich an nichts anderes denken, als das meine geliebte Mutter gestorben war. Die einzige Verwandte mit der ich Kontakt hatte, die ich wirklich kannte und die doch so mein Leben geprägt hatte. An dem Tag der Beerdigung schwor ich mir, nie wieder jemanden in mein Herz zu lassen. Die, die man liebte, würden sowieso entweder sterben oder ins Nichts verschwinden, an einen Ort, an dem es unwahrscheinlich war, sie je wieder zu sehen. Das Bild meines Vaters stieg in mir auf. Es waren nur so wenige Erinnerungen! Doch das, an das ich mich noch erinnern konnte, sog ich gierig noch weiter auf: Die Haare, die immer zerzaust auf seinem Kopf gesessen hatten. Ich hatte mich immer gefragt, wieso er sie überhaupt noch klemmte. Als ich mit der Hand durch mein widerspenstiges Haar fuhr, das des meines Vaters ähnelte, versuchte ich noch mehr Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen uns zu finden. Dunkel erinnere ich mich noch daran, wie mein Vater, der im Übrigen Leonard hieß, einst zu mir sagte, dass ich mir Leute, die mir etwas bedeuteten, immer gut einprägen sollte, man wusste ja nie was noch kommen würde. Trotz meines ach so jungen Alters musste man zugeben, dass ich doch ziemlich schlau war. Ich versuchte immer den genauen Grund für Dinge zu erfahren, die um mich herum gesagt oder getan wurden. Doch mein Vater hatte oft in Rätseln gesprochen und so dachte ich damals, dass ich mir die Art der Leute einprägen sollte die ich sehr mochte oder gar sogar liebte, doch vielleicht war damit im tieferen Sinne gemeint gewesen, dass er bald gehen würde. Zu diesem Zeitpunkt hatte er also schon vorgehabt zu gehen! Diese Erkenntnis überlief mich wie eine plötzliche eiskalte Dusche. Ich hatte meine Mutter und meinen Vater nie streiten hören, doch vielleicht, so kam mir in den Sinn, steckte ja noch mehr dahinter. Jetzt kam ich noch nicht darauf, doch als zweites schwor ich mir heute, am Tag der Beerdigung, dass ich herausfinden würde, weshalb mein Vater damals abgehauen war. 



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Ja, ja ich weiß der Anfang ist irgendwie etwas traurig geraten bis hierhin aber es geht ja noch weiter :) 

Was denkt ihr, was wird passieren?

Und vorallem, wann soll der nächste Teil kommen? Ich muss ja eh nichts mehr schreiben, ist ja schon fertig. Liegt bei euch ♥

Insgesamt wird es 12 Kapitel geben, immer zwischen 600 und 1400 Wörtern, dürft also gespannt bleiben...




Das Waisenkind-Der Sommer, in dem mein Leben neu begannWo Geschichten leben. Entdecke jetzt