Sie macht sich Sorgen um ihn. Wie er schon wieder aus dem Fenster schaut, ausdruckslos, gleichgültig. Immer öfter beobachtet sie ihn dabei.
Er redet nicht darüber. Nicht mit ihr und nicht mit seinem Vater. Er redet überhaupt nicht mehr mit ihnen. Nicht seit SIE weg ist. Sie weiß, dass er ihnen die Schuld daran gibt. Und vielleicht hatte er ja Recht. Aber es war nicht ihre Absicht gewesen, SIE zum Gehen zu bewegen. Sie wollte nur das Beste für ihren Sohn. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie viel SIE ihm bedeutet hatte.
Bekümmert schaut sie ihren Sohn an. Als er ihren Blick bemerkt, kehrt er ihr den Rücken zu. Er wird seinen Eltern nie verzeihen, was sie IHR und ihm angetan hatten. Er hatte SIE geliebt, er liebt SIE immer noch. Es scherte ihn nicht, dass SIE einen schlechten Ruf hatte und aus armen Verhältnissen kam. Er hatte alles versucht, um seinen Eltern das zu erklären, aber sie hatten es nicht verstanden. Oder nicht verstehen wollen. Ihnen scheint Geld wichtiger zu sein, als sein Glück. Und er, er hatte wertvolle Zeit vergeudet. Wäre er IHR gleich hinterher gerannt, hätte er SIE vielleicht retten können. Sie hätten an einem anderen Ort ein neues Leben beginnen können, doch es war zu spät.
Seinen Eltern hatte er nur gesagt, SIE wäre gegangen. Er glaubt nicht, dass sie verstehen haben, was er damit gemeint hat.
Schon wieder spürt er den bekümmerten Blick seiner Mutter auf sich. Er könnte zu ihr gehen und ihr verzeihen, ihr die Last von den gebeugten Schultern nehmen. Bei diesem Gedanken fasst er einen Entschluss. Er geht zu ihr und umarmt seine Mutter. Sie schaut verwundert zu ihm auf. „Ich verzeihe dir", sagt er und meint es auch so. Ein Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht. Er erwidert das Lächeln.
Nun weiß er, dass er SIE bald wiedersehen wird. Er wird IHR folgen und nichts und niemand wird sie trennen. Sie werden vereint sein. Vereint bis in alle Ewigkeit.
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Ein Koffer voller Kurzgeschichten
Short StoryEine Sammlung meiner Kurzgeschichten, die mit der Zeit hoffentlich noch wachsen wird. Alle Rechte der Geschichten liegen bei mir. Das Cover ist von mir mit einem Bild von congerdesign auf Pixabay