Der Vater

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Ich hätte dieses Zimmer nie reservieren dürfen. Wohl gemerkt, ich sehe mich den Vorwürfen zu trotz noch immer als den anständigen Zeitgenossen, der ich stets gewesen war. Bis zu diesem Tag habe ich mir nie etwas Grobes zu Schulden kommen lassen, wenngleich ich sicherlich kein Heiliger bin. Man muss wissen, dass sich die Menschen dieser Erde seit tausenden Jahren schon gegenseitig unheimliche Geschichten erzählen. Bereits in der Urzeit warnten Schamanen vor bösen Geistern, im Mittelalter wurden Sagen über dubioseste Kreaturen verbreitet und in den letzten Jahrhunderten hatten sich Horrorromane etabliert. Es hat wohl etwas Faszinierendes, sich zu fürchten. Obwohl man womöglich Gefahr läuft, schlaflose Nächte zu erleben, so verspürt man hie und da den Drang, sich derartigen Werken oder Erzählungen zu widmen. Nur sind diese Geschichten – zum Glück, sei gesagt – nahezu immer frei erfunden. So realistisch sie manches Mal scheinen, so gut durchdacht sie sein mögen, so viel Furcht sie beim Leser erzeugen – letztlich entspringen sie der oftmals grandiosen, krankhaften Fantasie der jeweiligen Autoren.

Ich jedoch gab nie viel auf derartige Erzählungen. Und ich hätte nie gewettet, dass mich selbst ein Ereignis treffen würde, das nahezu ideal in dieses umstrittene Genre passen würde. Nur werden mir in dieser Geschichte Sachen an den Kopf geworfen, die keineswegs der Wahrheit entsprechen. Lügen. Ich werde als etwas dargestellt, das ich gewiss nicht bin. Es ist meine Gelegenheit, nun die Sachlage aus meiner Perspektive zu schildern. Die einzige Wahrheit um die perverse Kreatur vom Fluss, das abartige Monstrum, das Personifikation des Bösen.

Mein geliebter Sohn Joshua und ich befanden uns gerade auf der Durchreise von Columbus, Ohio nach Louisville, Kentucky. Wir waren davor zu Besuch bei Verwandten gewesen und nun auf dem Nachhauseweg. Es sollte eine langatmige Autofahrt mit unserem Landrover-Geländewagen werden. Wir waren sicherlich bereits sieben Stunden gefahren, und es war längst Abend geworden, also mussten wir uns unweigerlich nach etwaigen Übernachtungsmöglichkeiten umsehen. Zu allem Überfluss war neben der Dunkelheit auch ein prägnanter Nebel aufgezogen, der jegliche Sicht verschlechterte. Nicht mal der Mond war in dieser Nacht zugegen. Wir folgten einer Landstraße direkt neben dem famosen Ohio River und fanden schließlich in einem kleineren Ort namens Short Creek, der unmittelbar neben dem ebenfalls winzigen Dorf Windsor Heights lag. Beide Ortschaften in ihrer Gesamtheit zählten – wenn überhaupt – bloß fünfzig Einwohner. Selbst das etwas größere Dorf am anderen Flussufer – Rayland – hatte maximal zweihundert Bewohner zu bieten. Wie dem auch sei, uns fiel ein Motel mit der Aufschrift „Brook's Motel" ins Auge. Der Name des Motels war an einem großen Schild angebracht, das durch die Beleuchtung so hell schien, dass man es selbst durch den dichten Nebel erkennen konnte. Wir näherten uns dieser Einrichtung mit unserem Auto an und parkten dann auf einem frei-stehenden Parkplatz. Jetzt hatte ich die Gelegenheit, das Gebäude näher zu inspizieren. Es sah eigentlich aus wie jedes andere typische Motel in den Staaten: Zwei Stockwerke, flaches Dach, schimmelige Wände, unsauberes Erscheinungsbild, kleine Zimmer. Der Ohio River war nicht einmal hundert Meter von dem Motel entfernt und wurde eben nur durch die besagte Landstraße von der Unterkunft getrennt. Neben dem Fluss fand sich auch eine mit Blumen geschmückte Promenade.

„Gefällt's dir, Joshua?", fragte ich meinen kleinen, schwarzhaarigen, nun sechsjährigen Sohn, der noch gelangweilt am Hintersitz des Wagens saß. „Bis wir das nächste Motel finden, dauert's bestimmt ewig..."

„Ist okay, Papa", war seine Antwort.

Ich merkte an Joshuas Gesichtsausdruck, dass er müde war. Verständlich. Diese langen, eintönigen Autofahrten machen selbst mich müde, und ich bin ein an sich sehr stressresistenter Mensch, scheinbar bedingt durch meinen Beruf im Consulting-Bereich.

Nachdem ich kurzerhand meine Geldbörse herausgepackt hatte, holte ich Joshua auf meinen Arm und spazierte mit ihm gemeinsam in Richtung Rezeption. Ich durchtrat die hölzerne Tür und fand ein kleineres, eher chaotisches Zimmer mit einem winzigen Schreibtisch und einigen Stühlen vor. Hinter dem Schreibtisch saß ein älterer Herr mit Glatze und runder Brille. Er war dicklich, las gerade Zeitung und trank Kaffee. Der Mann sah auf, als wir hereinkamen. Es war offenkundig, dass das der Leiter des Motels war. Vor ihm lagen haufenweise alte Zeitschriften und Dokumente.

PsychosisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt