Die Kellnerin

9 1 0
                                    

Freiwillig war diese Umsiedlung nicht, das kann ich garantieren. Keine tausend Pferde hätten mich hierher gebracht, in dieses elende Kaff, in diese gottverlassene, karge Gegend, die sich Short Creek nennt. Oder Windsor Heights, der nächste trostlose Ort, unmittelbar angrenzend an dieses Scheusal. Nun, mein Name ist Rachel, und eigentlich bin ich eher ein Großstadtmensch. Die gigantischen Metropolen haben mir immer etwas gegeben, was die Kuhdörfer Ohios nicht hatten. Die vielen Menschen, das Internationale, die Kultur, die Künstlerviertel, die Gaststätten, das Belebte... In Chicago beispielsweise, so sagte man sich, würde man das Leben auf den Straßen förmlich spüren können. Ähnliches erzählte man über New York, New Jersey, Los Angeles, San Diego und die ganzen anderen Großstädte Amerikas. Das lag vermutlich daran, dass ich in San Francisco, einer weiteren der unzähligen Millionenstädte, aufgewachsen bin. Das machte es umso schwieriger für mich, als ich mit acht Jahren mit meiner Familie nach Louisville in Kentucky ziehen musste, wo ich die letzte Klasse meiner Grundschule und anschließend einige Jahre die High-School besuchte. Der Grund für den plötzlichen Umzug war jener, dass mein Vater seinen Job bei einem großen Elektronik-Konzern verloren hatte. Er war dort als Softwareentwickler beschäftigt und meine Mutter einfache Hausfrau gewesen. Für den Jobverlust konnte mein Vater nicht mal etwas, das war das Bittere daran. Das Unternehmen lief eigentlich gut, doch eines schönen Tages entschied die Geschäftsführung aus dem Silicon Valley heraus, Teile des Betriebes auszugliedern. Man sollte wissen, zur damaligen Zeit waren Softwareentwickler heilig. Wie Magier. Das änderte sich schnell. Die Arbeit, die mein Vater ausübte, konnte jedoch zwischenzeitig eine Maschine übernehmen. So ging es hundert anderen Programmierern auch. Die offizielle Begründung lautete jedoch auf „Auftragsrückgang". Was für eine dreiste Lüge... Arbeitnehmerschutzvorschriften? Gab es hier nicht. Nicht für uns.

Bedauerlicherweise war mein Vater auf das Programmieren einer Software konzentriert, die es durch künstliche Intelligenz irgendwann schaffte, sich selbst zu programmieren und zu vervielfältigen. Es bedurfte keines dahinterstehenden Technikers mehr, und so wurden die vielen Angestellten überflüssig. Da die größeren Konzerne alle diese Entwicklungsstufe erreicht hatten, mussten wir notgerungen in diese Kleinstadt Louisville ziehen, wo der technische Fortschritt noch nicht ganz umgesetzt wurde. Wir hatten dort erstens Verwandte und zweitens boten mehrere kleinere Betriebe Jobs an, die den Fähigkeiten meines Vaters entsprachen. Nicht zuletzt hing der Umzug auch damit zusammen, dass das Wohnen in San Francisco ohne laufendes, hohes Einkommen praktisch undenkbar war.

Zu unserem Unglück verdienten wir hier in Louisville nie mehr so viel wie damals in der Großstadt. Wir kamen mehr oder weniger über die Runden. Hier und da gab es finanzielle Engpässe, und falls diese eintraten, mussten wir sparen oder zusammenlegen. So war das eben. Ich denke, dass es möglicherweise erträglicher ist, wenn man diese ständige Armut schon gewohnt ist. Aber wir waren es letztlich nicht. Im Gegenteil, wir zählten uns damals durchaus zur oberen Mittelschicht, und nun mussten wir massiv runterschrauben. Sowas kann wehtun. Von einem Habenden zu einem Habenichts abzusteigen ist eine Tortur.

Wirklich zurechtgekommen bin ich mit diesem ganzen Debakel nie. Von meinen alten Freunden musste ich mich selbstverständlich trennen, und diese neue winzige Ortschaft in Kentucky war nicht gerade das, was ich mir erhofft hatte. Es plagte mich. Die Einsamkeit. Das war sicherlich mit einer der Gründe, weshalb meine gesamte Schulzeit hier die Hölle auf Erden darstellte. In der Grundschule ging es ja noch, oft waren die anderen natürlich gemein und so weiter, aber es war erträglich. Man konnte die Zeit irgendwie absitzen. Richtig schlimm wurde es meiner Meinung nach erst ab der High-School. Man weiß ja, wie das mit den Jugendlichen ist... Man wird erwachsen, teilweise reifer, probiert Dinge aus... Viele entfalten sich während dieser Zeit. Und manch einer verträgt diese Phase ganz und gar nicht.

Ich war eine von denjenigen, denen diese Zeitperiode definitiv nicht gut tat. Als Schwarze hatte ich es in dem ohnehin seit Anbeginn republikanisch geprägten Kentucky nicht wirklich leicht. Und vor allem unsere Schule war sehr national-konservativ gefärbt. Das war nicht weiter verwunderlich, zumal ein bekannter republikanischer Senator aus dieser Stadt kam und diese Schule – die Louisville-High - unter anderem finanzierte. Außer mir gab es in meiner Klasse nur drei andere Schwarze – einen Jungen und zwei andere Mädchen. Das war eine totale Minderheit. Dort wo ich herkam, war mindestens die Hälfte der Klasse afroamerikanischer Herkunft. Und da wurde man auch nicht aufgrund der Hautfarbe in irgendeiner Form anders behandelt, weder von der Lehrerschaft, noch von seinen Mitschülern. Hier war es aber so.

PsychosisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt