10 "Jemand, der mich zum Weinen brachte"

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Gab es einen Menschen in meinem Leben, der mich nie zum Weinen bringen würde? Und damit meinte ich nicht unter den Fremden, die man auf der Straße traf oder Bekanntschaften, die nur ein paar Monate hielten. Nein.
Ich meinte Menschen, die mein Leben bewegten, es verschoben oder nach einem Sturm wieder an Ort und Stelle rückten. Gab es unter diesen Personen jemanden, der mich nie zum Weinen bringen würde? Oder würde es so eine Person einmal geben?

Und wenn ja, war es meine Pflicht diese Person zu finden? Denn ich wollte diese Person nicht finden. Ich wollte auf mein Herz hören.

„Jetzt bleib doch stehen Cara." Marc versuchte eilig mich einzuholen, aber ich lief erstaunlich schnell über die dunklen Felsen. Ich wusste nicht, wo ich hin wollte, aber ich musste weg. Weg von der Demütigung.
„Bitte bleib Stehen", sagte Marc noch einmal mit Nachdruck. „Noah ist doch einfach betrunken. Sie weiß nicht was sie sagt. Ich kann das alles erklären, wirklich."
Ich drehte mich wütend um.
„Jetzt komm mir hier nicht mit so einem Satz. Solange das, was Noah gesagt hat, keine Lüge ist, kannst du mir gar nichts erklären."
„Cara bitte, bleib stehen."

Dieses Mal erfüllte ich ihm seinen Wunsch. Wir waren jetzt so weit von dem Haus weg, dass die Beleuchtung der Fassade nicht mehr ausreichte, um meine Umgebung zu erleuchten. Und ich hatte ganz sicher nicht vor wegen eines Typen auch noch die Klippen runterzustürzen.
„Du bist stehen geblieben, weil du nicht weißt, ob das vor dir Luft oder Stein ist, oder?" Seine Stimme klang belustigt und auch in der Dunkelheit konnte ich sein Grinsen erkennen. In mir brodelte es endgültig über.
„Das findest du also lustig, ja?", fuhr ich ihn böse an.
„Nein tut mir leid", sagte er und hatte sich wieder gefasst, „Ich möchte dir das ganze wirklich erklären." Seine Stimme klang jetzt ernster und auf einmal hatte ich einen Kloß im Hals.

„Noah weiß wirklich nicht wovon sie redet. Du hast sie ja gesehen. Sie ist völlig neben der Spur."
„Jetzt schiebe das hier nicht auf Noah. Ich möchte hören was du dazu zu sagen hast."
Marc schwieg.
„Weißt du wie peinlich das für mich war?" Meine Stimme war jetzt hysterischer. „Der halbe Raum hat mitbekommen was Noah gesagt hat und –"
„Jetzt übertreibst du aber", unterbrach er mich, „die Musik war doch sowieso viel zu laut da drinnen."
„Darum geht es doch überhaupt nicht. Noah hat mir gerade gesagt, dass du auf Lily stehst, kurz nachdem wir uns geküsst haben." Ich betonte die letzten Worte besonders und es tat weh.
„Aber das stimmt gar nicht. Lily ist einfach nur eine Freundin. Vertrau mir."
„Wie soll ich dir vertrauen? Du redest ja nie wirklich mit mir. Warum gehst du nie ins Wasser? Und warum hast du mich am Mittwoch versetzt? Damit ich dir vertraue musst du verdammt nochmal mit mir reden. Außerdem, wie kommt Noah dann darauf, wenn es nicht stimmt?" Wieder schwieg er und ich schnaubte verächtlich. Die Nachtluft strich kühl um unsere Körper, aber mein Gesicht brannte trotzdem.
„Vor einer viertel Stunde hast du mir noch erzählt, dass du mir helfen möchtest, weil du gerne Zeit mit mir verbringst und jetzt höre ich sowas. Wie soll ich mich denn da fühlen?" Er schaute mich traurig an.
„Sag mir einfach ehrlich, ob du mir nur wegen Lily geholfen hast", sagte ich jetzt, ganz langsam. Er antwortete erst nicht direkt, aber sein „nur am Anfang" kam trotzdem zu schnell.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, ging ich an ihm vorbei, zurück in Richtung Haus. Unsere Schultern streiften sich kurz, aber da hatte ich ihn schon hinter mir gelassen. Er holte mich mit schnellen Schritten ein und redete hektisch weiter.
„Cara, das war wirklich nur ganz am Anfang. Als ich dich dann kannte, ging es mir gar nicht mehr darum. Und ich hatte auch gar nicht wirklich Interesse an ihr. Das mit uns ist –"

Ich hörte ihn nicht mehr, weil ich durch die Schiebetür wieder in den stickigen Raum getreten war. Ein paar Köpfe musterten mich von der Seite, aber ich ging schnurstracks durch die tanzenden Leute auf Jordi zu.
„Kannst du mich nach Hause fahren?", fragte ich kühl und er zuckte mit den Schultern.
„Kann ich machen. Mit den Mädchen hier läuft eh nichts mehr." Ich schüttelte angewidert den Kopf. Hätte ich bloß meinen Führerschein, dann wäre ich jetzt auf niemanden angewiesen.
Wir hatten uns schon fast bis zum Ausgang gedrängelt, da hielt mich Jordi nochmal zurück.
„Warte, wir müssen Lily doch mitnehmen." Lily. Das hatte ich ganz vergessen.
Ich riss mich zusammen und nickte.
„Such du sie. Ich warte beim Wagen."

Während der Fahrt redete ich kein Wort mit ihr. Ich bezweifelte, dass sie mitbekommen hatte, was passiert war, aber ich hatte keine Lust sie aufzuklären. Auch jetzt wo wir die Stufen zum Hotel hochgingen ignorierte ich ihre Fragen.
„Was ist denn los? Ist irgendwas passiert?", fragt sie mich verunsichert. „Warum wolltest du so plötzlich weg?"
Ich blieb im Türrahmen zum Treppenhaus stehen und drehte mich zu ihr um. An dieser Stelle würden sich unsere Wege eigentlich trennen. Erschöpft ließ ich mich auf den Steinabsatz fallen und zog mir die blauen Sandalen aus.
„Hier, die kannst du wiederhaben", sage ich müde. Lily setzte sich neben mich und sah mich ängstlich an.
„Was ist denn passiert Cara?"
Ich entschloss mich doch mit ihr zu reden und sagte mit leiser Stimme: „Noah hat da so einen Kommentar gemacht. Dass Marc mir ja nur helfen würde, weil er dich mag oder so."
„Oh."

Ich drehte meinen Kopf ruckartig zu Lily. Sie schaute mich schuldbewusst an.
„Du wusstest davon?", fragte ich fassungslos und lehnte meinen Kopf gegen den kalten Türrahmen. „Ich fasse es nicht. Das ist richtig scheiße von dir." Den letzten Satz sage ich ganz langsam und lies eine Pause zwischen jedem Wort. Trotzdem mache ich keine Anstalten aufzuspringen. Ich war einfach viel zu müde.
„Das ist jetzt echt nicht fair." Ihre Stimme war auf einmal sehr bestimmt und ich drehte meinen Kopf verwirrt zu ihr. „Das ist echt nicht fair Cara. Was hätte ich den tun sollen? Dir sagen, dass dir Marc vielleicht nur hilft, weil er vielleicht in mich verliebt ist?" Sie betonte jedes vielleicht extra deutlich. Ich hatte Lily noch nie so aufgebracht erlebt.
„Wie gesagt. Ich war mir überhaupt nicht sicher, ob ich sein Verhalten letzten Sommer richtig gedeutet hatte."
Jegliche Anspannung war aus meinen Muskeln gewichen und ich starrte nur noch ausdruckslos in den dunklen Himmel. Die Grillen zirpten um uns und irgendwo hörte ich ein Fenster zuschlagen.

„Tut mir wirklich leid Cara, aber ich hatte doch sowieso nur eine Vorahnung und jetzt steht außer Frage, dass er nur Augen für dich hat."
„Es macht mich einfach traurig, dass er mich angelogen hat", sagte ich nach einer Weile und Lily rückte näher an mich ran.
„Hat er dich denn wirklich angelogen oder bist du einfach verletzt, weil er sich nicht auf den ersten Blick in dich verliebt hat?"
„Ich hab mich doch auch nicht auf den ersten Blick verliebt. Ich... wahrscheinlich das zweite", antwortete ich und sie nickte verständnisvoll.

„Das kriegt ihr schon wieder hin. Ihr müsst euch einfach noch einmal aussprechen und dann wird das schon. Ihr habt ja den ganzen Sommer Zeit."
Ich rappelte mich auf und reichte ihr die blauen Sandalen. „Hier, danke. Ich glaube, ich muss jetzt einfach ins Bett."
„Schlaf gut."
Sie ging den Weg zu ihrem Zimmer und ich schaute ihr noch kurz hinterher.
„Es tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe", flüsterte ich, aber sie war schon zu weit weg.

Die Stille im Hotel war unerträglich. Ich ging langsam die Treppen hoch und außer der Geräusche meiner nackten Füße auf den Fliesen war nichts zuhören. Ich schloss vorsichtig die Tür hinter mir und zog mir wie benommen die Kleidung aus. Nur in Unterwäsche kroch ich unter die Bettwäsche und schloss die Augen. Zum Glück hatte ich noch meinen MP3 Player, so würde ich wenigstens Musik haben um einzuschlafen. Je lauter ich die Musik machte, desto leiser wurden meine Gedanken.
Ich atmete einmal tief durch und da kullerten ein paar einzelne Tränen meine Wangen herunter, die ich die ganze Zeit so verkrampft versucht hatte aufzuhalten.

Mir war egal ob da draußen jemand war, der mich nie zum Weinen bringen würde. Ich wollte doch sowieso niemanden anderen.

Sommer 68Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt