The Orphanage

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Wir sind da. Ängstlich klammere ich mich an Elizabeths Hand, als wir uns dem großen Holzhaus nähern, das sich vor uns erhebt. Eliza bleibt kurz stehen und lässt mich schauen, dann führt sie mich ruhig in das Haus hinein. Wir durchqueren einen Flur und ich halte mich eng an sie, als wir schließlich einen weitläufigen Raum betreten. Dieser wird von einem großen, von zahlreichen Stühlen umringten Tisch ausgefüllt, in dessen Mitte ein dampfender Topf steht. Von irgendwoher sind Kinderstimmen zu hören und es riecht gut nach frisch gekochtem Essen.
Eliza kniet sich vor mich. "Willkommen in deinem neuen Zuhause, Mary. Es ist schön, dass du da bist."
Mit der Hand streicht sie mir über den Arm, dann plötzlich ertönt ein lautes Glockenläuten und ich zucke zusammen. Eliza erhebt sich wieder und ich verstecke mich hinter ihr, während ich beobachte, wie eine Menge an Kindern in den Raum stürmt. Es sind viele Kinder, Jungen und Mädchen in verschiedenem Alter. Alle rufen aufgeregt herum, kreischen und lachen und setzen sich schließlich an den Tisch. Auch mich führt Eliza zu einem freien Stuhl. Sie selbst bleibt aber stehen.
Aufmerksam beobachte ich, wie sie ihren Blick über die Kinderschar streifen lässt und auf Ruhe wartet. Ihre Haltung ist gerade. Die dunklen Haare sind nach hinten gebunden und trotz der feinen Alterslinien, die ihr Gesicht durchziehen, finde ich sie sehr schön.
Nun beginnt Eliza zu sprechen. "Kinder, das ist Mary."
Als sie auf mich deutet, dreht sich eine Reihe an Köpfen nach mir um und ich drücke mich schüchtern in den Stuhl.
"Hallo", piepse ich.
Ein paar Kinder grüßen zurück, dann fährt Elizabeth fort.
"Mary wohnt jetzt mit bei uns. Seid lieb zu ihr."
"Ja, Eliza", ertönt die Antwort im Chor.
"Gut", meint Eliza zufrieden und legt die Hände aufeinander, "dann beten wir zusammen und danach können wir essen."

Der Eintopf ist wirklich lecker. Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal eine Mahlzeit gegessen habe, die meinen Bauch von innen heraus wärmt. Eine Weile esse ich still vor mich hin, doch dann tippt mich plötzlich jemand von der Seite an. Ein kleines Mädchen, etwa so alt wie ich, schaut mich mit einem verschmitzten Grinsen an. Sie hat blonde Haare, die zu zwei ordentlichen Zöpfen geflochten sind und ihr Gesicht ist übersät von Sommersprossen.
"Hallo, ich bin Betty", stellt sie sich vor, "wollen wir Freundinnen sein?" Ich nicke und lächele und Betty lächelt zurück. Ihr Mund ist voller Zahnlücken.
"Sind deine Eltern auch tot?", fragt Betty nun.
"Ja", antworte ich, "deine auch?"
Betty nickt. "Ja. Schon lange."
Da bemerke ich, dass Eliza wieder aufgestanden ist. Sie klatscht in die Hände. "Tisch abräumen und dann ab raus zum Spielen mit euch."
Sofort wird wieder heiteres Stimmengewirr laut und alle stehen auf und bringen ihre Holztellerchen zu einem Wagen, der am Rand des Raumes steht.
"Komm, Mary", sagt Betty zu mir und steht auf. Unsicher blicke ich zu Eliza und als diese mir aufmunternd zunickt, nehme auch ich meinen Teller und folge Betty, wie sie ihrerseits ihr Geschirr wegräumt und dann nach draußen rennt.

Im Hof wartet schon eine Gruppe von Kindern, die gerade Stöcke zusammengesammelt hat.
"Was macht ihr, James?", fragt Betty.
"Wir spielen Hamilton gegen Burr", antwortet ein Junge und schwingt einen Stock, als wäre es sein Schwert. "Dürfen wir mitspielen?", fragt Betty. "Ja", antwortet James, "aber dann müsst ihr Burr sein."
"Och nee", protestiert Betty, "immer muss ich Burr sein. Ich will auch mal Alexander sein."
"Ich bin aber schon Alexander", ruft der Junge und springt mit dem Stock auf Betty zu. Diese kreischt und rennt weg. Auch die anderen Kinder beginnen nun, einander zu jagen und mit den Stöcken Schwert- und Gewehrkämpfe auszutragen. Obwohl ich nicht weiß, worum es hier eigentlich geht, nehme auch ich mir einen Stock und eine wilde Freude über das Spiel erfüllt mich. Blöd finde ich nur, dass ich immer verliere, aber ein Kind erklärt mir, dass das so sein muss, weil ich Aaron Burr bin und Alexander Hamilton ist der Held und deswegen muss er immer gegen Burr gewinnen.

Beim Spielen vergessen wir die Zeit und langsam wird es dunkel. Irgendwann klingelt wieder die Glocke und wir werden hinein in den Schlafsaal gerufen, in dem Eliza schon auf uns wartet. Jedes Kind wäscht sich, zieht sich seine Schlafklamotten an und krabbelt schließlich ins Bett. Ich bekomme ein Bett neben Betty.
"Welche Geschichte wollt ihr denn heute hören?", fragt Elizabeth.
"Alexanders Geschichte!", ruft ein kleines Mädchen und die anderen stimmen ihr zu.
Eliza lächelt. "Die Geschichte von Alexander? Aber die habe ich euch doch schon gestern und vorgestern erzählt."
"Aber Mary kennt die Geschichte noch nicht!", ruft nun Betty, "außerdem mögen wir die Geschichte von Alexander am liebsten."
"Na gut", lenkt Eliza ein.
Und dann erzählt sie von Alexander Hamilton, ihrem Ehemann, der auch ein Waisenkind gewesen war. Sie erzählt, wie Alexander nach New York gekommen war, im Krieg gekämpft und dann geholfen hatte, das Land neu aufzubauen. Und sie erzählt, wie Alexander schließlich im Duell mit Aaron Burr gestorben war. Als Eliza endet, ist es ganz still geworden. Sie löscht leise das Licht und verlässt schließlich den Raum.

Nun ist es ganz dunkel und leise im Schlafsaal, doch in mir hallt Alexanders Geschichte noch in aller Lebendigkeit nach.
"Betty?", flüsterte ich nach einiger Zeit.
"Ja?", antwortete Betty schläfrig. "Warum gewinnt Alexander im Spiel immer, obwohl in echt Burr gewonnen hat?"
"Burr hat gar nicht wirklich gewonnen", meldet sich nun James zu Wort, "Eliza sagt, dass Aaron Burr zwar im Duell gewonnen hat, aber Alexander ist der richtige Sieger, weil er zu seinem Wort gestanden hat und alles dafür gegeben hat, um Amerika zu helfen."
"Ja", stimmt Betty ihm flüsternd zu, "und deswegen gewinnt bei uns auch immer Alexander im Kampf."
"Achso", meine ich, obwohl sich das ziemlich kompliziert für mich anhört, "klingt als wäre Alexander ein richtiger Held gewesen."
"Das war er ja auch."
Eine Weile ist es wieder still und ich denke schon, dass die anderen schon schlafen, da meint James schließlich: "Wenn ich groß bin, dann will ich auch so sein wie Alexander."
"Ich auch", sagt Betty, wie auch einige anderen Kinder, die noch wach sind.

Dann sagt irgendwann keiner mehr etwas und ich stelle mir vor, wie Alexander wohl ausgesehen hat und wie er wohl war.
"Mary?", flüstere ich nach einiger Zeit, "Ich glaube ich möchte auch sein wie Alexander." Doch Mary antwortet nicht mehr, sie ist schon längst fest eingeschlafen.

Ich aber kann nicht schlafen. Ich wälze mich hin und her, bin unruhig. Irgendwann krieche ich leise aus dem Bett und schleiche raus auf den Flur. Aus einer kleinen Kammer um die Ecke glimmt Licht und auf Zehenspitzen schleiche ich über die Holzdiehlen und luge in das Zimmer hinein. Darin sehe ich Eliza, wie sie in einem Schaukelstuhl sitzt und bei Kerzenlicht einen Stapel Dokumente liest. Gerade will ich mich wieder zurückziehen und zurück in mein Bett, da schaut Eliza auf. Ich mache mich klein. Sicher gibt es jetzt Ärger, weil ich nicht in meinem Bett liege. Doch Eliza schaute mich nur sanft an.
"Na Mary, kannst du nicht schlafen in deiner ersten Nacht hier?"
Ich nicke verlegen und schaue zu Boden.
"Komm her", sagt Eliza zu mir und zieht mich auf ihren Schoß. Dankbar kuschele ich mich an sie.
"Was liest du da?", fragte ich Eliza und deute auf die vielen vollgeschriebenen Zettel.
"Oh", antwortet sie, "das sind Dinge, die Alexander geschrieben hat. Es sind tausende Seiten, aber ich lese sie sehr gerne."
"Vermisst du ihn?"
Diesmal lässt sich Eliza Zeit, bis sie antwortet.
"Ja", meint sie schließlich, "Ja, manchmal vermisse ich ihn sehr. Aber weißt du, Mary, mir wurde die Zeit geschenkt, die er nicht mehr haben durfte und die möchte ich nicht mit trauern vergeuden, sondern nutzen. Für ihn. Und manchmal fühle ich mich ihm dann auch ganz nah. Wenn ich euch sehe zum Beispiel. Ich schaue in eure Augen und in jedem von euch Kindern sehe ich ein Stück von ihm."
Die Kerze flackert leicht, dann beginnt Eliza, mir über den Rücken zu streicheln und eingehüllt von ihrer Wärme schlafe ich endlich ein. In dieser Nacht träume ich von Alexander Hamilton. Er steht auf einem Schiff und schaut zum Horizont. Er wirkt stolz, finde ich. Wie ein richtiger Held.

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