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Endlich verließ ich das warme Gebäude und spazierte in die kalte Herbstluft, die mir sofort um die Ohren geflogen kam. Ich fühlte mich erleichtert, glücklich und vor allem frei. Ich war endlich, nach sechs schwierigen, anstrengenden und auspowernden Jahren frei. Und es fühlte sich verdammt gut an.

Es war mehr als schwierig, an diesen Punkt zu gelangen. Viel zu lange hatte ich gebraucht, meinen Kopf wieder normal denken zu lassen, in meinen Geistesstand von vor mehr als sechs Jahren zu gelangen, bevor ich eine bestimmte Person kannte.

Mir wurde wortwörtlich das Hirn weggefickt, von niemand geringerem als Min Yoongi, dem Mann, der mich entführt, geschlagen und geschändet hatte, in welchen ich mich letzten Endes verknallt hatte.

Er hatte mich zerstört. Mich und mein Leben. Wegen ihm hatte ich so gut wie von Vorne anfangen müssen. Es war schwer, das alles aufzubauen, was ich jetzt besaß.

Einen Schulabschluss, einen Job und auch endlich eine eigene Wohnung. Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Vertrauen zu meinen engsten Bekannten und meine eigene, psychische Stabilität. Mir ging es gut. Mir ging es endlich wieder gut.

Seufzend legte ich meine Hände in die Jackentaschen und lächelte, als ich an meinen Erfolg dachte. Das hätte ich nie ohne Frau Lee geschafft. Ihr verdankte ich, was ich jetzt besaß, und ich war ihr mehr als dankbar dafür. Tatsächlich würde ich unsere Sitzungen vermissen, sie war mir wirklich ans Herz gewachsen.

Ja, ich ging zur Therapie. Sechs Jahre lang. Doch jetzt endlich war Schluss damit, ich war geheilt.

,,Stockholm Syndrom"

Hatte die alte Dame immer wieder wiederholt. Nie wollte ich ihren Worten Glauben schenken; sie log. Das war echte Liebe zwischen uns beiden. Sie verstand es nicht; sie war nie dabei.

,,Dieser Mann ist nicht gut für dich. Du musst ihn loslassen"

Damals war ich der festen Überzeugung, dass sie Unrecht behielt. Niemand hätte jemals nachvollziehen können, was Yoongi und ich füreinander empfanden. Das war Liebe.

Das dachte ich zumindest.

Die ersten anderthalb Jahre wollte ich ihr nicht zuhören. Sie verstand mich nicht und wollte mein Denken umstimmen. Mir vermitteln, dass Yoongi mich manipuliert hatte, dass er ein Verbrecher war. Menschen getötet und vergewaltigt hatte. Doch ich wollte ihr nicht zuhören. Mir war bewusst, wer Yoongi war. Doch ich liebte ihn und er mich, und so konnte ich über seine schlimmen Taten hinweg schauen.

Er war mein Geliebter.

Die Therapiestunden waren für mich reinste Zeitverschwendung. Ich wusste, Frau Lee hätte mich niemals von ihren Worten überzeugen können. Der einzige Grund, wieso ich dahin gegangen war, war, dass der Staat mich gezwungen hatte. Ich war psychisch krank, sagten sie. Man hatte mir die Wahl zwischen den Therapiestunden und der Psychatrie gelassen, ich entschied mich natürlich fürs erste.

Das war die beste Entscheidung meines Lebens. Frau Lee war ein wunderbarer Mensch. Das einzige, was sie wollte, war, dass ich frei war. Frei von dem Mann, der mich sogar vom Gefängnis aus an der Leine behielt. Ich war frei.

Jetzt war ich sogar glücklich, dass man mir verboten hatte, Yoongi im Gefängnis zu besuchen. Er hätte mir weiterhin seine Lügen auftischen können, mich manipulieren, dass die Menschen mich anlogen, das mit dem Stockholm Syndrom.

Doch mittlerweile wusste ich; das mit uns beiden war keine echte Liebe. Das war krank, und lange hätte ich es eh nicht ausgehalten.

Bewusst entschied ich mich gegen den Bus und für den Weg zu Fuß. Das Wetter gerade war zu schön, als dass ich in dem stickigen, vollen Fahrzeug hätte sitzen und mir das entgehen lassen wollen. Ohnehin war meine Wohnung nicht allzu weit weg, weshalb es machbar war.

Don't trust 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt