Iss deinen Teller leer!

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Na? Wem kommt das bekannt vor?
Vermutlich vielen, vor allem in der Generation 30+, sicherlich auch jüngeren ...
Heute weiß man: Ein Kind dazu zu zwingen den Teller leer zu essen ist veraltet, denn so trichtert man dem Kind nicht nur ein, über das Sättigungsgefühl hinaus den Magen vollzustopfen, sondern man vermittelt dem Kind auch ein falsches Essverhalten.
Und das wird man nur schwer als Jugendlicher oder Erwachsener wieder los ...

Meine Kindheit war geprägt von "Iss deinen Teller leer" und Nahrungsentzug.
Das ist jetzt natürlich kein Standart und vermutlich können sich viele darunter kaum etwas vorstellen, wie zwei so krasse Gegenpole überhaupt stattfinden können.

Ich entstamme einer finanziell gutgestellten Familie. An Geld hat es eigentlich nicht gemangelt. Man hatte Arbeit, Häuser, Autos, Urlaube. Oberste Mittelschicht, würde man dazu heute sagen.

Essen spielte schon in meiner frühesten Kindheit eine außergewöhnliche Rolle.
Obst und Gemüse? Kannte ich nicht. Frisch gekochte Sachen? Das war nur sehr selten der Fall.
Aber meine Oma, die im Erdgeschoss des Einfamilienhauses lebte, kochte viel. Sehr viel.
Schon im Kindergartenalter bekam ich Portionsgrößen für Erwachsene und der Teller musste leer gegessen werden.
Kennt ihr noch den Spruch: "Weil du deinen Teller nicht leer isst, verhungert ein Kind in Afrika!"? Diesen Spruch gibt es in zahllosen variationen. Das man sich Beispielsweise schämen soll, weil man hier den Teller nicht leer isst, Nahrung wegwirft, während die armen Kinder in Afrika verhungern.
Als kleines Kind im Kindergartenalter kann man das natürlich noch gar nicht richtig greifen und verstehen und an dieser Stelle sei gesagt: Die Kinder in armen Ländern verhungern. Ja. Jeden Tag und ja, das ist schrecklich. Dafür sollten sich aber keine kleinen Kinder schämen, die ihre Portionen nicht schaffen, sondern die Eltern die glauben ein 5jähriges Kind könne das Volumen eines erwachsenen Mannes zu Abend essen.

Ich kann mich noch sehr gut an einige Situationen erinnern, in denen ich gezwungen wurde alles zu essen, was man mir vorsetzte.
An dieser Stelle möchte ich betonen, dass es sich in den 80er Jahren abgespielt hat, spätestens anfang der 90er Jahre. Ja, das waren noch andere Zeiten damals und ja, insbesondere Großeltern, die den Krieg miterlebt haben und wissen was es bedeutet zu hungern, haben ihre Enkel gerne gemästet. Nicht aus böswilliger Absicht, sondern weil sie Jahrelang hungern mussten. Ich möchte hiermit also keine Großeltern angreifen, die es nur gut gemeint haben.
Und ich möchte betonen, dass ich ein verdammt gutes Gedächtnis habe was Situationen anbelangt, Räume und Gespräche. Dafür kann ich mir Gesichter und Namen absolut nicht merken, selbst wenn ich die Person noch eine Minute vorher gesehen habe.
Und ja, ich kann mich sogar noch an viele Situationen aus dem Kindergarten erinnern, die manchmal durch Gerüchte oder Objekte getriggert werden. Selbst heute kann ich noch Flurzeichnungen von Gebäuden, meinem Kindergarten oder der Grundschule zeichnen. Fotographisches Gedächtnis ;)
Aber meinen Nachbarn im Supermarkt erkennen, dem ich täglich begegne? Keine Chance. Warum auch immer. Danke, liebes Gehirn.

Die Küche meiner Oma war Dreh- und Angelpunkt für die ganze Familie. Dort wurde sich getroffen, gekocht, gegessen, geredet, diskutiert. Und von dort ging es auf die Terrasse und in den Garten, sowie zur Garage und dem Parkplatz.
Meine Oma war schon immer eine sehr, sehr dicke Frau, die aufgrund ihres Gewichts kaum noch gehen oder gar stehen konnte. Dennoch kochte sie viel mit Saucen, Sahne und Fett. Süßes war immer vorhanden - und das hat mich später auch vor dem verhungern gerettet.

In meiner Kindergartenzeit gab es ein sehr einschneidendes Erlebnis, das ich auch nie vergessen werde. Es war der erste Tag damals und ich war sehr aufgeregt. So viele Kinder waren da. Es war laut und überall waren bunte Spielsachen, dazu junge Erzieherinnen die alle so freundlich wirkten, das ich es gar nicht fassen konnte.
Nette Erwachsene kannte ich bis dahin eigentlich nicht.
Jedes Kind bekam an seinem Garderobenplatz ein Zeichen zugeteilt. Es gab einen Stern, Sonne, Mond, Baum, Auto, Viereck, Kreis, Blume ... und einen Apfel.
An diesen Sitzbänken in der Ecke konnten wir unsere Jacken aufhängen, die Schuhe ausziehen und die Taschen stehen lassen.
Ich hatte also das Apfelzeichen. Apfel? Was ist das? Mir war dieser Gegenstand absolut nicht geläufig. Damals muss ich etwa drei Jahre alt gewesen sein und ich sehe mich noch heute dort stehen und diesen roten Apfel anstarren, der über der Garderobe auf einem Holztäfelchen gemalt war.
Die Erzieherin sagte, dass ich den Apfel habe und ich fragte natürlich - ganz unbedarf, wie Kinder nun mal sind - was das denn sei.
Sie glaubte, ich würde das Bild nicht erkennen und erklärte mir: "Ein Apfel. Wie eine Banane. Obst." Keine Ahnung. Noch nie gehört.
Sie wirkte etwas irritiert und nahm mich mit in die Küche, wo eine Obstschale stand. Dort lagen viele Früchte, aber ich hatte sie noch nie gesehen. Ich durfte in einen der Äpfel beißen und das war ein unglaubliches Erlebnis für mich! So süß und saftig ... ab diesem Moment habe ich Äpfel geliebt.
Aber meine Erzieherin fragte natürlich bei meiner Mutter nacht, warum ihre dreijährige Tochter denn nicht wisse was ein Apfel ist. Ich wurde als dumm dargestellt und Zuhause hat es ordentlich geknallt.
Gewalt gegen Kinder war in den 80iger Jahren ganz normal.
Zum Glück ist das heute anders - wobei es noch immer viel zu viel Gewalt gibt.
Leider.

Im Kindergarten wurde ich zur Entdeckerin.
Dort gab es richtiges Frühstück, auch etwas, das ich nicht kannte.
Brot, Butter, Obst, Gemüse ... ich war im Paradies angekommen und naschte mich durch alles was ich in die Finger bekam.
Zuhause gab es Brot, Marmelade und ... alles was in Sauce ertränkt werden konnte.
Und Süßkram. Sehr, sehr viel Süßkram.

Die Zeit im Kindergarten war herrlich. Ich erinnere mich an die Ausflüge zu Bauern, wo wir Kinder Mais und Bohnen ernteten (Natürlich keine Kinderarbeit, sondern im Rahmen von Entdeckungen), oder auf dem Erdbeerfeld die roten Beeren in Eimerchen legten und so viel naschen durften, wie wir wollten.
Die Welt erschien mir so viel bunter und lebendiger. So viele Gerüche, Geschmacksrichtungen und Abenteuer warteten nur darauf von mir entdeckt zu werden.

Mittags kamen die Erwachsenen zur Pause zu meiner Oma. Und ich vom Kindergarten.
Es gab eigentlich immer ähnliches essen: Fleisch (geschmort, gekocht, gebraten oder mit Panierung) mit Kartoffeln (gekocht, gebrachten oder zerstampft) mit unendlich viel Sauce und dazu selten mal gekochte Kohlrabie in Sahnesauce.
Fleisch und Kartoffeln also.
Meine Oma war eine gute Köchin, wirklich. Es war lecker. Klar, Fett und noch mal schön ein Stück Butter in die Sauce, die über die Kartoffeln gegeben wurde, das war lecker.
Aber die Portionen konnte ich nicht schaffen.

Stellt euch ein Kind vor. Drei, vier oder fünf Jahre alt.
Und dann einen Teller auf dem eine große, grobe Bratwurst ist (Hackfleischkonsistenz), dazu eine Suppenkelle voll Kohlrabie in Sahnesauce und zwei Kellen voll Kartoffelstampf.
Das musste gegessen werden.
Wahlweise wurde aus der Bratwurst ein dickes Schnitzel oder andere Fleischstücke.
Dazu große Teller und Sauce, Sauce, Sauce ... wie ein zusätzlicher Teller Suppe.
Die Sauce musste aufgeleckt werden, denn ihr wisst ja: Die armen, armen Kinder in Afrika, die verhungern, wenn der Teller nicht sauber ist.

Nach jedem Mittagessen hatte ich schreckliche Bauchschmerzen.
Eigentlich war es normal, dass ich ungern aus dem Kindergarten nach Hause ging, da ich wusste, dass es wieder Ärger gibt.
Wenn man als kleines Mädchen zwischen all den Erwachsenen sitzt, die einen anmeckern und schimpfen, das man sich doch "nicht so anstellen soll" und Kommentare fallen wie: "Du bist so eine Quängeltante!" - das verunsichert. Und macht Angst.
"Wenn du das nicht aufisst, bekommst du NIE wieder etwas!"
"Wenn du schon satt bist, brauchst du ja heute Abend nichts mehr?"
"Wehe du sagst noch mal, das du hungrig bist."
"ISS endlich!"

Und ich habe gegessen. Mit Tränen in den Augen. Mit einem Magen, der irgendwann nicht mehr konnte und dann habe ich erbrochen.
Und dann war das Geschimpfe ja noch viel größer. Denn das "Gute Essen" war ja für die Katz.

Was so schön im Kindergarten begonnen hatte - verlief Zuhause tragisch.
Im Kindergarten bedeutete Essen für mich Genuss. Gut kauen. Nicht gierig sein. Mit anderen teilen.
Zuhause war es Zwang. Stress. Ärger. Tränen. Schmerzen.

Abends gab es nichts. Oder Süßigkeiten.
Ich habe also nie wirklich gelernt was es heißt morgens zu Frühstücken, zu Mittag essen und Abendrot zu machen. Selbst heute, als Erwachsene habe ich Probleme damit.

Einmal war es besonders schlimm.
Das war ein paar Jahre später, etwa in der vierten Klasse. Da war ich zehn.
Meine Mutter kam auf die grandiose Idee sich eine Fritteuse zu kaufen, damals, 1994 war das eine große Sache, da so etwas nicht jeder Haushalt besaß. Die ganze Küche roch nach Fett, aber so ist das nunmal bei einer echten Fritteuse.
Natürlich haben sie geschmeckt. Ich war eh froh, dass sie überhaupt mal etwas gekocht hat und ich etwas zu Essen bekam, also habe ich gierig zugeschlagen.
ZU gierig. Ich lud meinen Teller voll, aß und war nach kurzer Zeit satt.

Ich muss vielleicht noch erklären, dass mein Magen zu dieser Zeit an Nahrungsentzug gewöhnt war. Manchmal gab es eben Tagelang nichts oder ich hamsterte mir Süßkram bei meiner Oma im Erdgeschoss zusammen. Das ersetzte natürlich kein richtiges Essen, vor allem nicht das Volumen.
Und wenn man dann als Kind die Gelegenheit auf leckeres Essen hat, schlägt man natürlich zu.

Ich schaffte meine Portion nicht, so gerne ich es auch wollte.
Ich war ein Kind. Kein Erwachsener, der wissen sollte, dass man an einem Buffeet nur so viel auf seinen Teller packen sollte, wie man essen kann. Immerhin kann man sich ja etwas nachnehmen.
Ich war nur ein Kind. Ein hungriges, gieriges Kind, dass nie gelernt hat Portionen einzuschätzen.

An diesem Abend musste ich sitzen bleiben, da ich alles aufessen musste.
Natürlich habe ich geweint und es setzte auch ordentlich was.
Da hagelte es Ohrfeigen, Schläge gegen den Hinterkopf - das war einfach normal. Und damals war das ein ganz alltäglicher Teil der Erziehung.
Essen wurde für mich immer mehr ein Hassobjekt.
Einerseits war es lecker und ich habe Pommes schon immer geliebt - auch heute noch. Auf der anderen Seite sorgte es für so viel schlechtes.

Ich saß da und übergab mich auf meinen Teller. Schließlich durfte ich ja nicht aufstehen.
Natürlich wurde mein Würgen gehört und man unterstellte mir es mit Absicht getan zu haben, nur um gehen zu dürfen.
Und ja, ich musste den Teller dennoch leeressen. Mit allem was dort lag.

Das ist 26 Jahre her und ich sitze heute hier am Laptop, um kurz vor 3:00 Uhr am Morgen, habe gerade Reis mit Fisch gegessen und bin ein wenig Stolz auf mich.
Denn ich habe heute den Teller nicht leergegessen.
Wenn ich koche, dann meistens etwas, dass ich mehrmals wieder aufwärmen kann, wie Reis- oder Nudelgerichte.
Es fällt mir noch immer schwer die Portion die auf dem Teller ist nicht aufzuessen. Es setzen dabei unglaublich viele, negative Gefühle ein, obwohl ich ja weiß, dass es Unsinn ist.
Aber den Teller wegzustellen und zu sagen: "Ich bin satt, den Rest gebe ich zurück in die Pfanne" ist noch immer ein großer Schritt.

Heute gab es kein Frühstück.
Kein Mittagessen.
Ich weiß nicht wie ich es erklären soll, aber es ist einfach so in mir drin.
An manchen Tagen esse ich etwas nach dem Aufstehen und den restlichen Tag nichts mehr.
Manchmal vergesse ich es auch ganz.
Und dann gibt es Tage, wo ich nur am Essen bin. Hier ein Brot, da eine bestellte Pizza und Abends noch Kuchen. Why not. Und Nachts, während ich schreibe, gibt es noch Müsli oder einen Obstsalat.
Das sind meistens die Tage an denen ich mich erinnere: "Hey, ich bin Erwachsen. Ich kann Nachts Cornflakes essen oder Torte. Niemand hält mich auf."
Aber ich weiß auch: "Eigentlich ist das keine gute Idee."

Wie fühlst du dich, wenn du im Restaurant sitzt und nicht aufisst?
Schlecht?
Musst du dann auch an die denken, die gerade Hunger leiden?
Ich denke daran und fühle mich schlecht.
Ein wenig ist es so, als würde ich die Farbe "ROT" sagen. Und jeder der das liest oder hört, denkt an die Farbe Rot. Aber ich meine eigentlich Blau.
Mir wurde Jahrelang gesagt, dass die blaue Farbe "Rot" heißt.
Und das kriege ich nicht mehr aus dem Kopf.




Iss doch mal ne Paprika - Viva la SpeckröllchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt