Der Fall des dunklen Herrn

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Sie hatte noch nie alleine ein Tor erschaffen. Bei den Übungen in der Halle der Stürme war Merandil stets an ihrer Seite gewesen und hatte seine Magie mit ihrer verwoben, um Portale zu öffnen und zu schließen. Doch er war in der Lage gewesen, alleine ein Tor zu Dimion zu öffnen, also sollte es ihr auch gelingen. Und sie wollte es ja gar nicht vollends erschaffen, sondern die Magie gegen Dimion lenken, sobald dieser abgelenkt genug wäre. Trotzdem zitterte sie vor Aufregung. Was, wenn sie es nicht kontrollieren können würde?

Anais und Dimion standen nun direkt vor dem hoch aufragenden Inrith und er forderte sie ungeduldig auf, das Portal nach Melith zu öffnen.

Anais, deren Hände noch immer von den Schatten hinter ihrem Rücken festgehalten wurden, sagte kühl:

„Dazu brauche ich meine Hände. Ohne sie kann ich die nötige Magie nicht aussenden."

Der dunkle Herr sah sie misstrauisch an, doch als Anais die Augenbrauen hochzog und sagte:

„Ich muss es auch nicht tun. Es ist deine Entscheidung", befahl dieser den Schatten, sie freizulassen.

Die Elfe rieb sich ihre durchfrorenen Finger und pustete wärmenden Atem in ihre Hände. Dann konzentrierte sie sich auf das Bild des vor ihrem geistigen Auge entstehenden Tores und bündelte ihr  magisches Licht. Sie ließ es langsam und gleichmäßig in ihre Hände fließen und richtete diese auf den Fels vor sich.

Anders als bei Merandil, leuchtete ihr Tor nicht wie ein Stern, dessen Strahlkraft sich zu den Rändern hin intensivierte, sondern sie brannte ein regelrechtes Loch in den Fels, welches sich zu einem Tunnel ausweitete, der sich durch das ganze Gebirge zu fressen schien.

Anais erschrak, denn sie spürte, dass der Zauber viel zu schnell voran schritt und sie ihn nicht aufzuhalten vermochte. Der Strom der Magie hielt sie so sehr gefangen, dass sie nicht sagen konnte, ob Dimion sie ansah, oder den entstehenden Weg vor ihnen. Sie machte Anais blind für ihre Umgebung. Alles was sie wahrnahm, war die Öffnung vor ihr. Sie musste jetzt handeln, bevor es zu spät war.

Verzweifelt fuhr sie herum und schickte ihr Licht in die Richtung, in der sie Dimion vermutete. Ein spitzer Schrei bestätigte die Vermutung und Anais presste die Magie in kraftvollen Stößen aus sich heraus. Sie fühlte, wie die Schatten an ihr zerrten, um sie von ihrem Herrn abzulenken, doch sie strahlte so viel Kraft aus, dass einige von ihnen verglühten, sobald sie Anais berührten.

Ihre Gedanken waren so sehr auf den Dunklen konzentriert, dass seine Diener nicht in sie eindringen konnten. Sie spürte Dimions Wut und dessen Schmerzen. Allmählich schwanden ihr die Kräfte und sie musste die Zähne zusammenbeißen, um sich weiter gegen ihn zu stemmen.
Da stürzte sich auf einmal ein ganzer Schwarm pechschwarzer Schatten auf sie und hüllte sie komplett ein, sodass ihr Licht nicht mehr auf den dunklen Herrn eindringen konnte. Anais schwanden die Sinne. Sie dachte nur noch, dass sie versagt hatte und sank dann bewusstlos in sich zusammen.


Dimion wand sich am Boden. Sein Körper war übersät von Brandblasen und er rang schwer nach Luft. Diese kleine Hexe hatte ihn getäuscht! Er würde sie genauso erwürgen wie einst Anduriel.

Den brennenden Schmerz ignorierend schaute er dennoch zuerst auf das Tor, hinter dem sich flimmernd ein Tunnel durch den Berg zog. Er konnte nicht erkennen, ob dieser sich vollständig bis nach Melith erstreckte, aber es war ein Anfang und das Tor schien stabil zu sein.

Dimion befahl einigen seiner Schatten, den Tunnel zu erkunden und ihm zu berichten, wie weit hinein in den Berg er führte. Dann stemmte er sich mühevoll auf die Beine und ging langsam auf Anais zu, die bewusstlos am Boden lag und genauso versengt aussah wie er. Ihre Magie hatte sie förmlich von innen heraus verbrannt.

Schattengrenze - ein Elfenroman über Licht und SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt