Das Verlorene Paradies

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Die Historiker, die nur zu gern den Menschen vergessen und von großen Ereignissen, Klassen und Völkern schwafeln, werden eines Tages behaupten, es hätte mit der Pandemie begonnen. Oder mit den darauffolgenden Wirtschaftskrisen. Vielleicht werden sie den Beginn der tödlichen Kettenreaktion aber auch auf die Migrationskrisen zurückdatieren. Das mag zwar alles irgendwo richtig sein. Wenn man aber mich fragt, war es eine Reihe von persönlichen Entscheidungen, die die Tragödie auslöste, die sich nun über ganz Europa und die Welt entfaltet. Damit meine ich nicht nur die entschlossenen Handlungen unseres Führers Kasimir Nenad.

Tatsächlich bin ich überzeugt, dass das alles erst durch eine Reihe meiner Entscheidungen möglich wurde. Und diese nahmen zweifelsohne ihren Anfang mit meinem persönlichen Abfall von der Menschlichkeit an einem Samstagabend vor rund zehn Jahren. Konkret begann es mit einem Streit in meiner damaligen Wohnung im Münchener Schwabing, der zu dem Zerbrechen meiner Beziehung zu Anka Džugašvili führte.

Wobei Streit hier ein etwas unpräziser Begriff ist. Es war eher eine Art katatonischer Nervenzusammenbruch. Kein einziges Wort konnte meinen zitternden Lippen entweichen, während Anka mich mal anbettelte, mal vollheulte und dann anschrie.

Obwohl es über ein Jahrzehnt her ist und vieles, was davor und danach geschah, im Nebel der Zeit verschwimmt, ragen diese Szenen so klar und deutlich vor mir aus dem dunklen Meer der Erinnerungen auf, wie leuchtende Felsen und Klippen – und mit ihnen der Schmerz mit seinen langen Krallen.

»Es tut mir ja leid. Es war nur ein Mal, nur ein Versehen«, schluchzte sie am Ende. Ihre wunderschönen blonden Haare hingen zerzaust über ihrem verzweifelten und vor Schmerz und Tränen verzerrten Gesicht. Tiefe Sorgenfalten und Schatten hatten die einst süßen Grübchen verdrängt. Ich senkte den Blick und starrte meine in die Stuhllehnen gekrallten Hände an. Sie zitterten. Die ganze Welt zitterte, schrumpfte auf einen dunklen Tunnel zusammen und ich raste hinab in einen Abgrund.

»Sieh mich an. Ich bitte dich. Ich war betrunken. Er hat mich abgefüllt. Das wird nie wieder geschehen, ich verspreche es dir ja«, fuhr sie ihre Beteuerungen fort, aber ich hörte sie nicht.

Ich hörte zwar die Laute der Worte, aber ihre Bedeutung versank in den dunklen Wellen, die um meinen Verstand tosten. Ich hatte das Gefühl zu ertrinken, als würde eiskaltes Wasser meine Lungen und meinen Schädel füllen und mich immer weiter in die schwarze Tiefe des Abgrundes ziehen.

»Bitte, Nikolas, rede doch mit mir!«, kreischte sie verzweifelt und ihre Hand berührte meine Schulter, ihre Brüste drückten gegen mein Gesicht. Ich hob langsam den rechten Arm und schob sie weg. Tonlos hörte ich meine Stimme: »Verschwinde. Ich will dich nie wieder sehen.«

Es war eine Lüge. Ich wollte mir ein Leben ohne sie nicht einmal vorstellen. Wie Widerhaken zerrissen meine eigenen Worte mein Herz, aber ich konnte nicht anders. Ich konnte nicht mit einer zusammen sein, die fremdging, die die Prinzipien der Liebe mit ein paar Drinks wegkippte. Sie schrie, sie wimmerte, sie flehte mich an, sie weinte, sie brüllte wütend, sie beschimpfte mich. Ich schwieg. Starrte nur in den Abgrund, in den ich gefallen war, sah alles um mich herum zerbrechen und zerfallen. Irgendwann knallte die Wohnungstür. Irgendwann hob ich den Kopf und sah, dass ich allein war. Verlassen von der Vergangenheit und der erwarteten Zukunft. Draußen vor dem Fenster dämmerte es über den Häuserdächern.

Ein neuer Tag brach an. Die Nacht war vorbei. Mein altes Leben war vorbei. Ein neues, noch formloses Leben kroch kreischend und blind aus der Dunkelheit.

Ich stand von dem Stuhl auf, ging zu dem leeren Doppelbett, legte mich drauf, zog die Beine an und weinte. Der Schleier der Lähmung fiel und die Gedanken stürzten sich auf meinen Verstand wie Aasgeier. Die Bilder, die ich auf ihrem Smartphone entdeckt hatte, kreisten um mich.

Der FaschistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt